Frank Barth – Tragik der Allmende

Jahr 1995
Titel Hörstein
Künstler Ulrich Eller
Autor Frank Barth

Die klassischen Hauptsätze der Thermodynamik, vereinfacht:

1. Du kannst nicht gewinnen.
2. Du kannst nicht unentschieden spielen.
3. Du kannst das Spiel nicht verlassen.
Anonym

Tragik der Allmende

Kunstwerke werden gern metaphorisch als Fenster umschrieben, die den Blick in eine ,andere Welt‘ ermöglichen oder, zeitgemäßer, als Fenster, gar Tore, in die ,Wirklichkeit‘. Die Wahrnehmung sollen sie erweitern hin auf das bisher ,Ungesehene‘ und ,Ungehörte‘.1 Mir scheint die Metapher vom Kunstwerk als Spiegel allerdings treffender: Wie sich darin das Subjekt in der selektierenden und kombinierenden Arbeit seines Nervensystems mit den Sinnesdaten erkennt, und wie sich der ,Spiegel‘ durch diese Arbeit permanent aufs Neue — Phönix aus der Asche — als Werk erst manifestiert. Vom ,Was sieht? Was hört? Was riecht? Was schmeckt? Was fühlt?‘ zum ,Wie bewußt konstituiere ich meine Wirklichkeit?‘ Eine Frage, die auf den ,Schrecken der Situation‘ zielt. Es bleibt immer ein bißchen wie im Märchen vom Hasen und Igel: „lck bün all dor!“

Das Bild der Heidelandschaft um Lüneburg, das vielbesungene ,wunderschöne Land‘, gehört zum typischen Inventar der deutschen Kollektivseele, und es ist so widersprüchlich wie diese. Für Harmonie, Genügsamkeit und Ursprüngliches stehend, verdankt es sich doch dem Ergebnis eines rücksichtslosen vorindustriellen Raubbaus, der vor ca. 1000 Jahren betrieben wurde, um den Bedarf an Holz für den Salinenbetrieb in Lüneburg und den aufblühenden Schiffbau zu decken. Damit einher ging die Überweidung des gemeinschaftlich genutzten Grund und Bodens, auf dem sich dann Steppenpflanzen ausbreiteten, die fortan das Gepräge dieser neu entstandenen Kulturlandschaft bestimmten.

„Heute ist der Begriff ,Lüneburger Heide‘ eine feste Vorstellung für den Fremdenverkehr“?2 und als Postkarten-ldylle millionenfach verbreitet. Wer hier seine Freizeit verbringen will, hat klar umrissene Erwartungen, und er beansprucht deren Einlösung. So soll es sein: Fauna und Flora befinden sich in seliger ökologischer Balance, lila blüht die Erika, die Biene summt, der Käfer brummt, die Lerche tiriliert, der Heidschnuckbraten schmeckt.

Welche Resonanzen wird dieses pittoreske Konglomerat wohl zeitigen, wenn Ulrich Eller die Plausibilität eines faksimilierten Artefaktes im Rahmen einer präzise kalkulierten künstlerischen Intervention gegen das klischeebestärkte Vertrauen auf die Authentizität des Vorgefundenen dissonant ausspielt?

In der Nähe eines regionaltypischen Schäferhofes und in Sichtweite der Stallung einer Heidschnuckherde soll nicht weit vom Wege, am Saum einer lichten Baumgruppe, ein Findling plaziert werden: Ein Monolith in Gestalt des Decksteins eines Dolmen von ca. 10 to. Gewicht und einem Volumen von ca. 3,5 qbm. Der gelbbraune Granitblock ist länger als breit und breiter als hoch. Sein Fundort liegt im glazialen Aufschüttungsgebiet nördlich von Bad Segeberg. Der Stein wurde aufgrund seiner Färbung sowie der skulpturalen Komplexität seiner Form ausgewählt. Darin sind die Konturen der Bruchkanten noch unter der Politur der Oberfläche durch den Gletscherschliff erkennbar. Sie gibt uns vage Auskunft über die lange Reise durch die Wechselfälle der erdgeschichtlichen Epochen und die unterschiedlichen, in ihnen wirksamen Gestaltkräfte: Aus dem Feuer durch das Eis unter die Hände des Menschen.

Horizontal wird der Findling aufgesägt, mit größter Sorgfalt, damit das Oberteil zum Unterteil paßgenau sich wieder fügen kann. Vom Zentrum der Schnittfläche des Unterteils aus werden sodann senkrecht ein Konus und radial auf diesen zulaufende Rillen ausgefräst. Die Geräusche dieser Tätigkeiten werden von Ulrich Eller.aufgezeichnet, elektronisch bearbeitet, mit anderen Alltagsgeräuschen zu einer Klangkomposition — den „Verweisungsklängen“3 — abgemischt und auf EPROM, einem als integrierte Schaltung ausgeführten Datenspeicher, gesichert. Vor Ort werden in den ausgefrästen Konus Speziallautsprecher eingebaut, deren Kabel unterirdisch zu einem der Schäferhofgebäude führen, das Eprom-Chips, Digital-Analog Wandler, Sequenzer der Klangdaten und die nötigen Verstärker beherbergt. Am zusammengefügten Findling wird nur noch der dünne waagerecht-äquatorial verlaufende Spalt auf seine Verwandlung in ein Artefakt verweisen. Er wird fortan das Zentrum eines Geflechtes wechselseitiger Bezüge aus visuellen und auditiven Elementen bilden und die mannigfaltige Dialektik von Künstlichem und Natürlichem anklingen lassen.

Das scheinbar kontrovers gerichtete emotionale und gedankliche Assoziationspotential, welches in den einander fremden stofflichen wie nichtstofflichen Materialien und Materialgruppen kombiniert ist, bricht das sprichwörtlich stumme Schweigen des Steines. Unter den Händen des Künstlers beginnt er zu sprechen. Zum Beispiel verweist er auf die Konfrontation Hermann Löns‘ mit Bill Gates, vor allem aber darauf, wie in der Beunruhigung durch das Hören eines unerwarteten Geräusches der suchende Blick das Banale in Intensität und Bewußtheit zu transformieren vermag, bis dann — Kronos versus Kairos — mit dem erfolgreichen Abschluß dieser Suche, uns Hören und Sehen schnell wieder vergeht.4 Oder lapidar im wahrsten Sinne des Wortes gesprochen: „Alles was man wahrgenommen hat, ist auch schon verloren“. 5

Die Paradoxie jener, durch subtile raffiniert um die Wahrnehmungsschwelle der ortstypischen Geräusche oszillierenden Klänge anscheinend in Schwebe versetzten Tonnage des Monolithen, wird zumindest bei denen, welche sich unvorbereitet damit konfrontiert sehen, eine Kettenreaktion nach dem Schema ‚bemerken, wahrnehmen, erkennen, beurteilen, handeln‘ auslösen; diesen apperzeptiven Prozeß, „wodurch das Kunst- und Werkhafte erst konstituiert wird“.6

Die Sonne scheint, der Wanderer naht. Der Stein spricht in den Stimmen des Materials… Zusammen(ge)hören.

Anmerkungen

1) siehe Rötzer, Florian: Inszenierung des Unerhörten, in Ulrich Eller, Saarbrücken, Berlin, 1992.
2) Verein Schäferhof Neuenkirchen e.V: Entstehung, Aufgaben: Schäferhof, Heidschnucken, Landschaft und Heide, Neuenkirchen, 1994.
3) dazu Wulffen, Thomas: Verweisungsklänge. Zum Werk Ulrich Ellers, in Sip., Berlin, 1985.
4) „Die Erfahrung, die dieses Erlebnis vermittelt, wirft ein bezeichnendes Licht auf unser Verhältnis zur uns umgebenden akustischen Welt. Wir „hören“ eigentlich nicht. Unser akustisches Wahrnehmen besteht darin, dem, was an unser Ohr dringt, Begriffe zuzuordnen, und so das Ohr von dem akuten akustischen Eindruck zu befreien. Die Straßenbahn, die wir „hören“ ist ein Bild. Auch ein Phänomen wie die Raumakustik gehört in diesen Zusammenhang. Daß wir aus der Abweichung des Gehörten zu einer vorgestellten Norm auf eine spezifische räumliche Gegebenheit schließen, zeigt, daß das Akustische im Normalfalle dazu dient, eine »innere Saite« zum Schwingen zu bringen“. Ebbeke, Klaus: Zum akustischen Aspekt der Arbeiten Ulrich Ellers, in Ulrich Eller, Berlin. 1987.
5) Ein Militär, zitiert nach Paul Virilio, zitiert nach einer Einladungskarte der Galerie Guillaume Daeppen, Basel, 1991.
6) Lingner, Michael: Kommunikation im System Kunst, Hamburg, 1990.

Peter M. Bode – Windberg

Jahr 1981
Titel Windberg
Künstler Jean Clareboudt
Autor Peter M. Bode

Was ist der »Windberg«: Eisen-Sonne, Opfer-Schale, Stein-Kreis, Saturn-Ring, Land-Marke, Erd-Zeichen, Sternen-Linse, Brenn-Punkt, Empfänger und Sender fremder Signale? Einstieg zum Kern der Welt? Ein Ort der Kraft! Aber kein Platz der Macht, jedoch eine Stätte für Erinnerung und Merk-Mal für Voraus-Schau.

Jean Clareboudts Werk auf einem runden Moränenhügel in der Heide hat eine atemerweiternde Präsenz und focussiert unsere Phantasie in Richtung einst geübter Rituale und Verhaltensweisen, die mit der Einbindung der menschlichen Existenz in kosmische Zusammenhänge zu tun haben. Die Windberg-Plastik ist so merkwürdig monumental und zugleich so selbstverständlich diesem Platz der Natur zugehörig, daß man sie annimmt und in sich aufnimmt wie ein zeitlos aus den Frühschichten des eigenen Vorbewußtseins in die Gegenwart hineinragendes Instrument der Vergewisserung und Beobachtung.

Man ahnt, daß dieses ebenso lapidare wie komplexe Environment nicht nur die formale Erfindung eines kunstschaffenden Individuums ist, sondern auch verschüttete (doch aus dem Innersten nach abrufbare) gemeinsame kulturelle Erfahrungen wieder sichtbar macht: Mächtige Steinbrocken, zur Kreis-Plattform geschichtet und geordnet, markieren die ausgewählte Stelle aIs »heiligen« Bezirk (heute setzen wir für die grenzüberschreitende Sehnsucht und irrationale Empfindungen den Begriff »Kunst«; früher hingegen waren Ritus und Kunst noch nicht getrennt).

Die schlechthin vollkommene Figur des Kreises hebt den »Ort der Handlung« aus der vegetativen Vielfalt der Umgebung heraus. Ein Kunst-Werk als Setzung gegenüber der Natur, obwohl die Steine selbst und ihre unregelmäßige Gestalt ein Teil der Natur sind. Aber die geometrische Abstraktion erfüllt den Roh-Stoff mit Geist und Absicht. Die Augen-Scheibe hat ihre Altar-Terrasse. Einen halben Meter über dem Erdboden beginnt die andere Ebene.

Man ist abgehoben. Doch die Füße verspüren den rauhen Grund und die übrigen Sinne die Unendlichkeit einer steinernen Wüste im Umkreis von fünfzehn Metern, mit Horizont. Das Geröll wird zum prägenden Landschafts-Stempel. In der Mitte das in Erwartung geneigte Dach, der glatte stählerne Diskus mit der zentrischen Lichtöffnung. Drei riesige Findlinge stützen die rostbraune, viele Tonnen schwere Ringplatte, die unsere Aufmerksamkeit aufsaugt. Darunter die Ur-Höhle, die — wäre sie völlig geschlossen — den Grundriß eines gleichschenkligen Dreiecks hätte.

Bin ich im Mittelpunkt der Anlage, wird mein Gesichtsfeld von der Metall-Scheibe (Durchmesser: fünf Meter, Innenöffnung: eineinhalb Meter) diagonal geschnitten: Nach Süden gewendet, überblickt der einbezogene »Teilnehmer« an Clareboudts plastischer Raum/Zeit-Bestimmung das Land, wobei der Vordergrund durch die Scheibe abgedeckt ist, während er in umgekehrter Orientierung zwischen den Megalithen hindurch in die Ferne schaut. Der visuelle Maßstab wird jedesmal umgepolt: von abwärts gelenkter Nah-Sicht zu ansteigender Weit-Sicht.

Mit Sicherheit werden unsere Nachfahren, wenn das Werk Jahrhunderte überdauert, womit sein Autor rechnet, über den Sinn dieser Erscheinung rätseln. So wie wir die Bedeutung der Osterinsel-Skulpturen und der Erd-Linien auf der peruanischen Hochebene von Nazca zu entziffern versuchen. Was aber bringt das? Das Werk erklärt sich aus sich selbst. Weitergehende Interpretationen und sich aufdrängende Assoziationen, mit denen ich diesen Text beginne, sind allemal schlüssig oder unschlüssig. Das sind sozusagen die Nebenwirkungen, vielleicht sogar erwünschte.

Die Hauptwirkung der Plastik ergibt sich aus ihrem So-Sein und Hier-Sein. Denn sie ist schön und erhaben: auch nach den Regeln der Ästhetik, die Qualitäten und Quantitäten ins Verhältnis setzt. Da werden Spannungen und Paradoxien, Entsprechungen und Harmonien erkennbar: Der Reiz der scheinbar im Gleiten begriffenen Scheibe; die Perfektion des Kreises; der Gegensatz der beiden Materialien und Beschaffenheiten: Stahl und seine Bearbeitung als Inbegriff des Zeitgenössischen — und Steine als Ausdruck des Unveränderlichen.

Das dichte Feld der Felsen verkörpert im ganzen Ruhe und im einzelnen Bewegung. Das Loch in der Scheibe verdoppelt die Idee und Magie des Kreises. Kein Schatten berührt das Gebilde. Ein Observatorium der Stille. Ein Zentrum der Kontemplation.

Nur das Durcheinander einer nicht so weit entfernten Häuser-Reihe stört zur Zeit noch die absolute Übereinstimmung von Ort und Kunst, die selbst zum Ort wird. Doch welche Lebensspanne haben diese Häuser? In der Bretagne und auf Korsika künden immer noch »Dolmen« und »Menhire« von einer alten Kultur. Jedoch die Häuser von damals sind vergessen. Und in Stonehenge verblüfft immer noch die astronomische Präzision des wundersamen Steinsäulen-Zirkels. Aber für die Wohnungen der einstigen Menschen gibt es keine Zeugnisse mehr Die Produkte für den unmittelbaren Zweck sind vergangen, nur die Denkmäler übergreifender Zielsetzungen haben längeren Bestand.

Denn solche Art von Kunst hat die Aufgabe, die Epochen zu verklammern, indem sie Spuren, die zu allen Zeiten Schwingungen im Menschen auslösen, hinterläßt. Die Pyramiden am Nil haben uns von jeher erregt. Auch sie weisen über die direkten Bedürfnisse weit hinaus. Unabhängig vom Überlebenskampf symbolisieren sie die andere Seite unserer Natur, deren Nahrung die Kunst ist. Kühn sind jene Bauten, weil sie unsere sonstige Erdenschwere und Beklommenheit schrankenlos transzendieren.

Nun hat freilich das Monument des Jean Clareboudt äußerlich nichts mit den ägyptischen Pyramiden zu tun: Es dient keinem toten Herrscher als Ewigkeits-Hintergrund, und es bedurfte zu seiner Errichtung auch keiner Sklaven-Heere. Aber im Wollen, in der Haltung, im Anspruch, da gibt es durchaus Ähnlichkeiten, denn Clareboudt besetzt einen Punkt der Erde ausschließlich mit seiner Vorstellung und Vision und deren Realisation. Sein Werk ist im wahrsten Sinne des Wortes unverrückbar:

Es ist ein trigonometrischer Fixpunkt der Welt — und kein Museumsstück, kein Beitrag zur Landschaftsverschönerung und kein Artefakt für Sammler oder Kommunen. Es hat keinen Preis, obwohl seine Herstellung teuer war, und sein Wert ist nicht zu taxieren. Es gehört allen und vermag auch noch im verschlossensten Betrachter eine Regung hervorzurufen. Das Archetypische dieser Arbeit rührt uns an.

Clareboudt bezeichnet seine Schöpfung auch als »Horch-Tisch«: Hagelschlag kann auf der Platte dröhnen, an den Steinspitzen zerplatzen. Wind rauscht durch die Öffnungen und Klänge vermischen sich mit dem wechselnden Licht. Der Mond steht nach achtundzwanzig Tagen über seinem Spiegelbild und hat einen Hof, so wie die Scheibe ihren Stein-Kreis. Auch könnte ich mir Feuer und Rauch vorstellen, die von Zeit zu Zeit aus der Mitte aufsteigen. Und Blitze, die ins Eisen fahren und einen Regenbogen, der einen noch viel größeren Kreis über allem wölbt.

Der »Windberg« zieht die Elemente auf sich und bündelt ihre Energie. Das ist der wahre »Sonnen-Kollektor« und ein Hitze-Schild, eine Nebel-Säge, ein Schnee-Herd, ein Eis-Rad, ein Wall gegen ländliche Unordnung und ein Startplatz für extraterrestrische Höhenflüge, die ihren Antriebs-Schub aus den geheimsten Vorratskammern der Seele beziehen.

Welch Abstand zwischen diesem vielschichtigen und gleichwohl sinnfälligen Beispiel eines neuen Bild-Werkes mit alten Wurzeln — und dem Übermaß an Bildern in dieser Zeit, die Gesehenes nur wiedergeben, die also Wahrheiten lediglich reproduzieren, anstatt sie wirklich ding-fest zu machen, wie das Jean Clareboudt auf und mit dem Windberg getan hat.

Auch wer den Bann-Kreis auf der Heide-Anhöhe längst wieder verlassen hat, bewahrt im Kopf und im Herzen ein anhaltendes Gefühl, das von dieser großen, einfachen und umspannenden Geste — eingeschrieben ins Antlitz der Erde — als starker Impuls ausgeht. Man kann und will sich nicht entziehen.

Jürgen Morschel – Wege

Jahr 1980
Titel Wege
Künstler Dominique Arel / Daniel Boudre / Karl Ciesluk / Jochen Duckwitz / Peter Könitz
Autor Jürgen Morschel

»Kunst und Landschaft« ist das Grundthema der alljährlichen Sommerausstellungen der Galerie Falazik; der Zusammenhang von Kunst und Landschaft das Thema, das den Betrachter beschäftigen soll. Ein Mißverständnis wäre es jedoch wohl, wollte man in gleicher Weise Landschaft als das Thema auch der künstlerischen Arbeiten bezeichnen, die jeweils in dem der Ausstellung vorangegangenen Symposion entstanden sind: Der Künstler behandelt nicht ein Thema — er handelt; hier in Neuenkirchen wird es besonders deutlich: Der Betrachter begegnet nicht künstlerischen Arbeiten »über« Landschaft (was eine Ablösbarkeit der Arbeiten von ihrem Ort einschließen würde), sondern Gestaltungen in der Landschaft; das ist die erste und allgemeinste Feststellung, die sich hier treffen läßt. Landschaft wäre somit eher als spezielles Motiv (nicht im Sinn von Darstellungsgegenstand, sondern von Beweggrund) im Rahmen der grundsätzlichen Aufgabe des Künstlers zu sehen, die Etienne Hajdu im Hinblick auf den Bildhauer einmal so formulierte: »Es war zu allen Zeiten die überlieferte Aufgabe des Bildhauers, aus Erde, Stein oder Metall den Träger seiner Wirklichkeit zu gestalten.« Zu den verschiedenen Zeiten wurden die verschiedensten Gegebenheiten als Träger der Wirklichkeit gesehen — das grundsätzlich Entscheidende liegt dabei stets darin, daß durch künstlerisches Tun eine bestimmte Gegebenheit als Träger der Wirklichkeit ins Bewußtsein tritt, indem sie als Möglichkeit für Gestaltung relevant zu werden vermag.

Das Thema bedeutet Abstraktion, Isolation eines Gegenstandes, verlangt Ein- und Abgrenzung; im Motiv — verstanden als Beweggrund — äußert sich der Gedanke an das umfassende Ganze, dessen sich künstlerisches Tun gestalterisch zu vergewissern sucht: Der Sinn des Werkes liegt in dem Zusammenhang, den es herstellt; in dem, was es einbegreift und wovon es einbegriffen wird — in diesem Fall also im Zusammenhang mit Landschaft als einem von Natur und Geschichte gleichermaßen geprägten Lebensraum.

Blickt man zurück auf die bisherigen Neuenkirchener Sommerausstellungen, so bietet sich da keineswegs das Bild einer beliebigen Folge von Präsentationen verschiedener Künstler, die, wie üblicherweise im Ausstellungsbetrieb, allenfalls die Entwicklungsgeschichte der Kunst spiegelt. Diese Sommerausstellungen haben vielmehr selbst eine deutliche Entwicklungsgeschichte. Sie läßt sich allgemein beschreiben als Entwicklung von der Präsentation künstlerischer Arbeiten, die an diesen Ort gebracht wurden, zur Präsentation von Arbeiten, die an diesem Ort entstanden, zunehmend als ortsbedingt und ortszugehörig konzipiert und verwirklicht sind. Die Landschaft ist der notwendige Ort und Lebensraum dieser Kunst — anders wäre es im Fall künstlerischer Hervorbringungen, für die Landschaft nur Thema wäre: ihr Ort wäre nicht die Landschaft, sondern das Museum, die Kunstsammlung. Im Grunde trifft denn nun auch für das, was in Neuenkirchen geschieht, der Begriff der Ausstellung — verräterisch für die Situation einer Kunst, die als eine »hinausgestellte«, also aus unmittelbaren Zusammenhängen gelöste erfahren wird — in seinem üblichen Sinn nicht mehr zu; denn Ausstellung besagt hier eigentlich nur noch, daß die Arbeit der Künstler beendet ist und die Werke als fertiggestellt der Betrachtung überlassen werden. Unmittelbarer Anlaß für die Betrachtung wird die Entstehung des Kunstwerkes — und nicht die Tatsache, daß ein Vermittler aus diesem oder jenem Interesse Werke für eine Ausstellung zusammengestellt hat; die Verbindung von Produktion und Rezeption gewinnt damit entscheidend an Unmittelbarkeit. Zugleich ergibt sich aber auch eine Veränderung der Funktion der Galerie: Ruth Falazik fungiert nicht mehr im gewohnten Sinn nur als Galeristin, die zwischen Künstler und Betrachter vermittelt, dem Künstler Gelegenheit gibt, seine Arbeiten zu zeigen; dem Betrachter Hilfe leistet zum Verständnis der Arbeiten — ihre Tätigkeit nähert sich vielmehr der des Auftraggebers, der unmittelbar und produktiv die Entstehung von Kunst ermöglicht, im jeweiligen speziellen »Thema« (wie in diesem Sommer »Wege«) den Auftrag definiert und dann auch aktiv Anteil nimmt an den praktischen und künstlerischen Überlegungen zur Lösung der Aufgabe.

Es ist bei dem, was in Neuenkirchen geschehen ist und geschieht, nicht zuletzt dieser Aspekt, der, wie mir scheint, Beachtung verdient. Die Bedeutung und Notwendigkeit von Kunstvermittlung, didaktischer, das Verständnis der Kunstwerke fordernder Bemühungen soll keineswegs in Frage gestellt werden. Doch Vermittlung und Didaktik allein werden kaum geeignet sein, Kunst und Gesellschaft wirklich zusammenzuführen — allein und in ihrer zuweilen penetranten Übersteigerung könnten sie gar Kunst und Gesellschaft einander entfremden und das Empfinden für das Künstlerische zerstören. Um es überspitzt zu formulieren: wichtiger als das, was Kunstwerke »aussagen«, was also abgelöst und dem Intellektuellen Verstehen zugeführt werden kann, ist, daß sie entstehen; daß Kunst als Äußerung des schöpferischen Vermögens des Menschen angestrebt, erlebt und in der Gesellschaft verankert wird; daß das Bewußtsein nicht nur auf die Gegebenheit von Kunst, sondern vor allem und mehr noch auf ihre Möglichkeit hingelenkt wird. Kunst ist nicht nur Mittel, sondern auch Zweck; und entsprechend ist der Künstler nicht so sehr zu gesellschaftlicher Nützlichkeit verpflichtet als vielmehr von einer Verpflichtung der Gesellschaft zur Kunst als einer wesentlichen Möglichkeit menschlicher Selbstverwirklichung zu sprechen. Eine Gesellschaft, die den Künstler akzeptiert, wird auch den verantwortlichen Auftraggeber akzeptieren und möglich machen müssen, wobei dieser Auftraggeber selbständig, aber doch getragen von der Gesellschaft und im Bewußtsein, als ihr Exponent zu fungieren, zu handeln hätte. Eben dafür scheint mir in Neuenkirchen ein bedenkenswertes Beispiel gegeben zu sein; hier wird nicht einfach Kunst vermittelt, sondern das Bewußtsein der Möglichkeit dieses Lebensraumes zur Kunst geweckt. Entsprechend sind bei den einzelnen Symposien die Aufgaben für den Künstler definiert, die Voraussetzungen seines Tuns jeweils durch landschaftsspezifische Aspekte festgelegt; entsprechend auch soll der Künstler hier nicht einfach mit einer fertigen Atelier-ldee herkommen, sondern die Idee seiner Gestaltung aus den Gegebenheiten des Ortes entwickeln. Die Neuenkirchener Symposien nehmen in der nunmehr zwanzigjährigen Geschichte der Symposion-Bewegung einen besonderen, herausragenden Platz ein — denn wohl in keinem anderen Fall ist der Zusammenhang von Kunst und Lebensraum, Kunst und Gesellschaft so genau bedacht und so eng geknüpft wie hier.

Die Bestimmung der jeweiligen Gestaltungsaufgabe — um den Begriff Thema zu vermeiden — für die einzelnen Sommerveranstaltungen ist Bestimmung des jeweiligen besonderen Zusammenhangs mit dem Ort, dem Landschaftsraum, in dem die künstlerische Arbeit stehen soll. Wie sehr diese Aufgabenstellungen dann auch mitbegründet werden durch Erfahrungen, die sich aus dem Erlebnis der in früheren Jahren bereits geschaffenen Arbeiten ergeben, zeigt sich besonders diesmal, da die Künstler eingeladen waren, »innerhalb eines zweimonatigen Symposions sich mit den inhaltlichen und formalen Möglichkeiten des Landschaftselements >Weg< auseinanderzusetzen«. Der Weg ist Landschaftselement, aber nicht nur — er ist ebenso Element der Kunst, die bisher hier entstanden ist: Die langen Wege zu den weitverstreut um Neuenkirchen plazierten Arbeiten gehören wesentlich mit zum Erlebnis der Arbeiten. Und mit ein Grund dafür, daß die Integration von Kunst und Landschaft hier so gut funktioniert, ist die Tatsache, daß die Werke hier nicht an einer Stelle versammelt sind und sich dort isolieren, sozusagen unter sich bleiben. Die langen Wege, die zu gehen sind, haben ihren Sinn nicht nur im Ziel, dem zu erreichenden Werk, sondern ebenso liegt der Sinn des Ziels im Weg, im Landschaftsraum, der durchschritten, gesehen, erlebt wird; die allmähliche Annäherung an und Entfernung von den Gestaltungen läßt erst alles in den Blick gelangen, was zum Bild der Arbeiten gehört; all das auch an natürlicher Stimmung, was üblicherweise aus der Kunstbetrachtung ausgeschlossen bleibt: Veränderung durch jahreszeitlichen Wechsel, durch Mittagshelle oder Abenddämmerung, durch Sonnenlicht oder Düsterkeit eines Regentages. Die Arbeiten sind gleichsam Markierungspunkte, die die Landschaft in einem besonderen, neuen Sinn begehbar machen, sie erschließen. Anders als im FalI der Kunst im Museum haben Weg zur Kunst und Kunst hier wesentlich miteinander zu tun: Kunst beansprucht hier nicht nur Zeit zu ihrer Betrachtung, sondern läßt dem Betrachter Zeit, stellt ihm Zeit zur Verfügung — als Wegzeit für das Ergebnis des zu durchgehenden Raumes, in dem und in dessen Zusammenhang die Arbeiten stehen. Die vom Betrachter aufzuwendende Zeit wird gleichermaßen erfülIt durch Landschafts-, Natur- und Kunsterlebnis; durch körperliche (Gehen), sinnenhafte (Sehen, Hören der natürlichen Geräusche) und geistige (Reflexion) Betätigung. Und im Grunde kann jetzt auch gar nicht mehr vom Betrachter gesprochen werden, insofern die Begegnung mit dem Kunstwerk nicht mehr eine ausschließliche Sache des Kunstbetrachtens ist: Die Integration der Kunstwerke in die Landschaft bedeutet hier also zugleich Überwindung einer im reinen Betrachten isolierten, aus dem Lebenszusammenhang gelösten Form der Begegnung mit Kunst. Es war somit eine folgerichtige Überlegung, das diese veränderte Rezeptionsweise begründende, schon für die bisher um Neuenkirchen entstandenen Arbeiten so wesentliche Elemente des Weges nun einmal selbst zum zentralen Aspekt des Gestaltens zu machen und ins Bewußtsein zu rücken.

Hinzu kommt eine weitere, durch die Aufgabenstellung bedingte Besonderheit des diesjährigen Projektes. Bei den bisherigen Symposien war es so, daß den Arbeiten der Künstler zwar ein gemeinsamer Grundgedanke vorgegeben war, aber doch jeder Künstler für sich, weit entfernt vom nächsten, diesen Gedanken unter den speziellen Gesichtspunkten des jeweiligen Platzes verwirklichte Der Gedanke des Weges rückt nun zwangsläufig die Arbeiten näher zusammen, verpflichtet den Künstler dazu, seine Arbeit in den unmittelbaren Zusammenhang mit den Arbeiten der anderen zu bringen.

War so einerseits die Bedingung einer Gemeinschaftsarbeit gegeben, so sicherte andererseits doch auch die Aufgabe des Weges, der Abfolge, die er bedeutet, dem einzelnen Künstler relativ großen Spielraum für individuelle Gestaltung. Was dabei entstanden ist, ist sowohl zu erfahren als das Ganze, das die Arbeiten bilden, wie auch als das unverwechselbare Einzelne, aus dem sich das Ganze zusammensetzt. Auch in diesem Zusammenhang von Gemeinschaftswerk und in ihrer Individualität sichtbar bleibender Einzelarbeit ist das diesjährige Symposion bedenkenswert: Handelt es sich einerseits um einen Weg, so sind darin doch andererseits auch die eigenen Wege aufgenommen, die die einzelnen Künstler in ihren unterschiedlichen Überlegungen gehen.

Anfang und Ende des Gesamtweges sind bestimmt durch den Gedanken des Eindringens in beziehungsweise des Heraustretens aus einem Waldgelände — durch Eingang und Ausgang. Der Weg beginnt an einem dicht bewachsenen Waldstück, das an seinen Ecken durch locker geschichtete Holzscheite markiert ist. Der Dreikant dieser Schichtung deutet sowohl Eingrenzung an wie auch Richtung, verweist auf das Entlanggehen am Rand des undurchdringlichen Waldes (wobei im übrigen in dieser Formierung auch Bezug genommen ist auf ein Landschaftselement — die Stapelung von Holz zum Trocknen). Von dieser Markierung aus ist zunächst ein bereits vorhandener Weg in die Arbeit einbezogen, von dem aus dann in regelmäßigen Abständen dreimal das Eindringen in das Waldesdickicht versucht wird: ebenerdig, auf einem in das Dickicht gehauenen, mit Brettern belegten schneisenartigen Einschnitt, an dessen Ende versperrend ein Baum steht; durch einen Weg in die Tiefe, eine keilförmige, bohlenbelegte Eingrabung, an deren Ende die Erde wie ein verschlossenes Tor den Zutritt verweigert; durch eine Rampe aus einer Erdaufhäufung und einer Konstruktion aus Stämmen, über die ein Bretterweg steil nach oben ein Stück in die Wipfel der Bäume führt und dann abbricht. Diese drei Wegansätze sind so angelegt, daß ihre gedachten Verlängerungen genau auf die Mitte des Waldstücks zulaufen, sie realisieren die drei Grundarten des ebenen, abfallenden, aufsteigenden Weges, die entsprechenden drei Raumerlebnisse des geraden hinein, hinunter und hinauf, der Befindlichkeit auf der Erde, unter der Erde und über der Erde — und vielleicht mehr noch: Verhaltensweisen eines gleichsam gelassen harmonischen Wirklichkeitszusammenhanges, eines gewalttätigen im sich eingraben und eines sich über die Wirklichkeit Erhebens im kühnen Aufschwung, der hinauf und zugleich doch auch ins Leere führt; bei dem man Gefahr läuft, alsbald den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihren Abschluß findet diese Arbeit von Dominique Arel wiederum mit zwei Dreikantschichtungen von Holz, die zugleich den Eingang bildet zu dem Weg, auf dem Peter Könitz dann den Wanderer weiterführt; das Übergehen dieser Schichtung in einem wirren Haufen, wie ein zusammengefallener Stapel wirkender Holzstücke deutet zugleich darauf hin, daß hier die Widersetzlichkeit des Waldes gegen das Eindringen gebrochen ist.

Peter Könitz hat einen Bretterweg gelegt, der in Krümmungen ebenerdig durch den unterschiedlich dicht bewachsenen Wald führt; der Weg ist befestigt durch Eisenträger, die in regelmäßigen Abständen quer zu den Brettern aufeinanderfolgen und genau parallel zu der Straße liegen, an der der Bretterweg endet. Somit sind die Eisenträger einerseits technische Mittel des Wegebaus, der Wegbefestigung, andererseits zugleich auch Mittel der Orientierung, Maß: folgt der Weg den natürlichen Gegebenheiten des Ortes, dem gegebenen Raum zwischen den Bäumen, so läßt der Winkel, den Bretter und Träger bilden, die jeweilige Abweichung von oder Annäherung an den rechten Winkel (der »recht« im doppelten Sinn der mathematischen Definition wie der Bestimmung des Weges im Hinblick auf das noch nicht sichtbare Ziel ist), Abweichung von und Annäherung an die Richtung erkennen, in der das Ziel liegt.

Den Weg von Könitz hat jenseits der Straße, an der er endet, Karl Ciesluk aufgenommen und weitergeführt; gradlinig ein Stück den lichten Wald einwärts verlaufend erscheint er als Spur eines mächtigen Findlings, der am Ende des Weges liegt, als sei er bis dort geschoben worden, steckengeblieben in der Erdmasse, die er angesammelt und vor sich aufgetürmt hat: eine Bewegung, die zum Stillstand gekommen ist; eine Sackgasse, die zur Umkehr zwingt. Hier liegt spürbar ein anderer Gedanke als bei den übrigen Arbeiten zugrunde: Weg ist hier weniger die planbedingte Anlage, Menschenwerk — er ist vielmehr Spur eines Naturgeschehens; etwas von der eiszeitlichen Verschiebung, mit der die Findlinge in diese Landschaft gelangten, scheint hier anzuklingen: ein Weg, der mehr zurück in die Vergangenheit als vorwärts zu einem Ziel führt.

Seine Fortsetzung findet der Weg dann über eine lange Strecke mit den unterschiedlichsten Wegsituationen, die Daniel Boudre gestaltet hat. Einengungen durch Stapel von Rundhölzern, durch ein auf einer kleinen Anhöhe stehendes, auch auf ein kultisches Moment des Weges anspielendes Tor bestimmen zunächst den von Boudre angelegten Weg. Als ein besonders wichtiges Element erweist sich bei dieser Arbeit die Farbe — ein Blau, das als Markierung dient und auch dort, wo Behinderungen wie ein querliegender Baumstamm oder eine Barriere den Weg versperren, wo der Weg sich in der Offenheit eines Platzes zu verlieren droht, sicher weiterführt; ein Blau, das aber auch zur Illusion wird im Fall eines Scheintors, gebildet durch einen mächtigen Holzstapel, dessen leicht zurückgesetzter Mittelteil durch das Blau entmaterialisiert, durchlässig erscheint und doch verschlossen bleibt. Realer, gebauter Weg und Wegführung durch Zeichen, die sich an die Vorstellung wenden, verknüpfen sich, gehen ineinander über und treten wieder auseinander — auch im Schlußabschnitt, in dem sich diese Arbeit dann zu einem furioso steigert: Einem vorgegebenen, aber nicht mehr benutzten Weg wurde durch Erdanhäufung ein hügeliger Verlauf gegeben; er wurde knüppeldammartig mit Stämmen belegt und gerät nun optisch selbst in Bewegung; die Stämme scheinen zu rollen, hintereinander und übereinander holpernd herzustürzen auf den Abschluß am Ende des Waldes hindrängend — wiederum zwei Holzstapel, zwischen denen eine Öffnung doppeldeutig Ausgang oder auch nur Ausguck auf das freie Feld ist. Zwei blaue Linien verlaufen über die Stämme auf den Ausgang zu, zu dem die letzte Strecke des Weges ansteigt, scheinen in das Blau des Himmels zu münden, sich darin zu verlieren und den Wanderer mit sich hinaufzuziehen.

Die letzte Arbeit von Jochen Duckwitz greift dieses Moment des in Bewegung geratenen Weges in idealer Weise auf: Durch den Ausblick zwischen den Holzstapeln sieht man schon vom Anfang des Knüppeldammes aus eine hohe Eisenstange, um deren Spitze Birkenhölzer besenartig gebunden sind. Tritt man dann durch die Öffnung der die Arbeit von Boudre abschließenden Stapel, entdeckt man zwei weitere, gleiche Eisenstangen in der Ferne — wie davonwandernd und sich in der Landschaft verlierend. Man ist am Ende seines Weges angekommen; das Gehen, die Bewegung ist jedoch nicht zu Ende: Indem man hier unwillkürlich stehenbleibt, hat man das Gefühl, etwas gehe weiter, hinter dem man nun zurückbleibt — wozu auch gehört, daß es einem nicht notwendig erscheint, noch bis zu den weit entfernten Stangen hinzugehen; ihr Sinn scheint sich voll nur im optischen Fernerlebnis zu erschließen.

Die Gesamtanlage schließt also mit einem Blick vom Waldrand ins offene Land, womit dann noch einmal deutlich wird, in welchem Grundgedanken die verschiedenen Arbeiten doch eine große Einheit bilden: Weg ist hier nicht die Verbindung zwischen zwei Punkten; Weg ist die Verbindung des Gehenden mit dem Raum, der Landschaft, durch die der Weg führt — nicht das »wohin«, sondern das »worin« macht die Bedeutung des Weges aus. Es war somit im Hinblick auf diesen Gedanken auch notwendig, daß der den Künstlern ursprünglich gemachte Vorschlag, einen bereits gegebenen Weg für ihre Arbeit zu benutzen, abgewandelt wurde zu dem Plan, selbst einen Weg künstlich und künstlerisch anzulegen — einen Weg, der nun die verschiedensten vorgegebenen Situationen (Dickicht, lichten Wald, Verkehrslinien, offenes Land und selbst den Himmel) zusammenbindet und so Landschaft künstlerisch erschließt.

Lothar Romain – Erste Begegnung

Jahr 1986
Titel Dialog
Künstler Harald Finke / Carl Vetter
Autor Lothar Romain

Diese Heide ist längst keine unberührte Naturlandschaft mehr, auch wenn sie für Städter noch viel Naturumraum bietet. Die Lüneburger Heide ist eine von Bauern kultivierte Landschaft mit eingestreuten Waldpartien. Das sind die Forste als Holzlieferanten. Vom Heidedichter spricht man in fernen Gegenden eher als hier. Die Probleme vor Ort sind andere als die in sentimentalen Liedern. Hier fragt man, wie die berühmten Heidekartoffeln in diesem Jahr wachsen, wie überhaupt dem Boden soviel Frucht abgerungen werden kann, daß es zum Überleben der Höfe reicht. Romantik mag den Besucher überkommen, der sie mit Heidehonig und präparierten Lammfellen befriedigt. Die Bevölkerung hat wenig Zeit, über ein Verhältnis zur Natur nachzudenken. Sie steht als Land- und Forstwirte — eher in einem stillen, aber zähen Kampf mit ihr, wieweit sie sich als Kulturlandschaft bewähre und wann sie sich wieder einmal für zuviel oktroyierte Ordnung, die für sie Unordnung ist, räche — wenn zum Beispiel scharfe Stürme breite Schneisen in die Forste schlagen und mit dem Bruchholz die Borkenkäfer einziehen.

So gilt es wohl auch für Neuenkirchen. Und es wird fraglich bleiben, ob die hier Ansässigen jemals in den Dialog eintreten werden, zu dem zwei Künstler sie in ein Stückchen Wald der Umgebung eingeladen haben. In der Luftaufnahme erscheint die kleine Waldparzelle als ein längliches Dreieck. Es ist im Sinne der Kulturlandschaft kein kostbarer Besitz. Er wurde den zwei Künstlern großzügig zur Verfügung gestellt. Die hatten andere Augen für den Wald »als eine Insel von Restnatur inmitten von Äckern und Straßen« (Carl Vetter). Ein kleiner Pfad, kaum ausgetreten und scheinbar wenig attraktiv, führte durch Bäume und Sträucher Bruchholz verstärkte den Eindruck des übriggebliebenen Restes, dem man keine Aufmerksamkeit gewidmet hat. Nicht viel mehr als zweihundert Meter ist der Pfad quer durch das Holz. Das hat man gewöhnlich schnell hinter sich gelassen: achtlos und ohne Geduld, wie Brecht sagt. Daran mag sich nun einiges ändern, hat sich schon Grundsätzliches als Voraussetzung geändert, ohne daß die Natur vergewaltigt worden wäre. Die beiden Künstler Harald Finke und Carl Vetter kamen nicht als »Kulturarbeiter«, die der Natur einen fremden Stempel aufdrücken wollten, auch nicht als Landschaftsplaner, die die Chance für ein kleines Stückchen Parklandschaft entdeckten. In solcher Funktion hätte man sie vor Ort wohl leichter verstanden: ein Kurpärkchen für den Luftkurort.

Harald Finke und Carl Vetter haben das Wäldchen eher wie einen Hain betreten, eingefriedet von Wiesen und Feldern, darin sich die Natur zurückgezogen hat, um bei sich zu sein. Sie wollten nicht stören. Deshalb haben sie wohl zunächst den ohnehin schon vorhandenen Pfad benutzt. Da war ein Quergang möglich, ohne größere Verletzung. Da konnte man zuhören, zuschauen, dieses — wenn auch nur noch partielle — Beisichsein der Natur im Zusammenspiel erforschen: der Wald als ein großer Raum, getragen und besetzt von pflanzlichen Lebewesen, die ihre eigene, wenn auch sich verändernde Individualität besitzen. Man entdeckt sie in den Wurzel- und Astformen, in der Art des Beieinanderstehens oder auch in der Flucht vor dem anderen, der das Licht nimmt.

Carl Vetter hat sich dieses Umraumes angenommen, hat den Pfad deutlicher markiert, hat Bruchholz geräumt, weil es wie Relikte schon beendeter, von der Natur selbst abgebrochener Dialoge dalag, und hat sich akzentuierend auf die Situation eingelassen. Seine Akzente bestehen aus Steinen. Die muß man in der Heide erst zusammentragen. Er hat sie gesucht. Jeden Stein für eine bestimmte Stelle. Er hat nicht daran herumgearbeitet, hat sie in ihrer Form belassen und in den Waldboden eingelassen. Dort erscheinen sie nun wie gewachsen. Und doch sieht jeder sogleich, daß sie so nicht naturständig sind. Vetter hat Zeichen gesetzt, die er aus der Natur herausgelesen hat: hier eine Zickzacklinie, die die Anordnung der Bäume aufnimmt, da ein Dreierensemble, das Versammlung im Raum schafft, dann wieder ein Stein zwischen zwei Stämmen, der wie eine Stufe wirkt, über die man von einem Raum in einen anderen schreiten mag. Dieses Wäldchen hat unter seinem großen Baumkronendach viele Räume, die ineinander übergehen, die sich auch durchschneiden mögen, eine Vielfalt von Perspektiven, deren man ohne die Steinzeichen nur schwerlich gewahr würde. Nur Anfang und Schluß des kleinen Pfades sind mit größeren Steinblöcken markiert, die zum Rasten einladen, aber auch die Grenzen markieren. Die übrigen Steine sind von tragbarer Größe. Der Künstler wollte die Steine selbst plazieren können, sie wieder verrücken, wenn sie sich nicht völlig einfügten, sie drehen und wenden, bis die Korrespondenzen evident wurden. Dann hat er sie soweit in den Boden eingelassen und befestigt, daß nur mutwillige Zerstörung nicht wahrhaben wollte, hier sei der bleibende Platz gefunden. Dieses ist kein Spiel mit Veränderungen, will nicht Umgestaltungen durch den Betrachter, sondern vollendet sich in der angestrebten Kontemplation, der Einfügung in Natur.

Diesen Weg ist auch Harald Finke gegangen, hat wohl den Raum gesehen, der in den Steinfiguren seine Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit noch einmal wiederfindet und hat sein Augenmerk auf die einzelnen Subjekte gerichtet, die diesen Wald ausmachen. Wie Vetter den Raum, so hat er seine Bewohner erkundet. Dem Polyzentrismus des Ganzen setzt er die Konzentration auf ein Einzelnes entgegen. Doch solche Feststellung kann schon irreleiten, wenn man darin eine Konfrontation beschrieben sähe. Bei beiden Ansätzen entwickelt sich das eine nicht in Antwort zum anderen, sondern mit dem anderen. Harald Finke hat schließlich einen Baum ausgemacht. Es ist — sie möge mir verzeihen — nicht unbedingt die schönste Eiche, aber hier an diesem Ort eine unverwechselbare mit einem eigenen Raum im Raum, den sie mit ihrer Krone geschaffen hat: ein nicht gigantisches, aber doch beachtliches Blattbach, darunter ein runder Platz. Im Schatten der Kronen mag nichts anderes als bestenfalls Gras wachsen.

Aus Stahlrohren hat Finke eine Hülle geformt, ein wenig nach oben sich verjüngend, ähnlich hoch wie der Stamm des Baumes, mit einem Spalt an einer Seite, daß man nicht nur hineinsehen, sondern vor allem sich auch hineinstellen kann. Darin mag man sich nun wie ein Stamm von Rinde umkleidet fühlen. Man sieht den Baumstamm gegenüber an und möchte meinen, ihm müsse es ähnlich gehen: ein Körper, nicht nur von Leben im physischen, sondern auch im psychischen Sinne durchpulst, gewärmt von der Rinde. Finke will die Sprache des Baumes aufnehmen und in der Galerie hörbar machen. Das hat nichts mit Scharlatanerie zu tun. Daß Pflanzen auch wie Nerven reagieren können, ist seit geraumer Zeit bekannt. Man kann die unterschiedlichen Spannungsflüsse bei verschiedenartiger Ansprache messen und hörbar machen. Das wird in der Galerie sein. Hier vor Ort soll man die Zwiesprache mit dem Baum im Sprachkontext der gesamten Natur führen: Aufschauen ins Blätterdach, als sei es die eigene Krone, so nah dem Leib und doch soweit enthoben.

Auch das gehört dazu: Insekten, vor allem kleine Fliegen und Mücken, die wenig für Kontemplation übrig haben. Die Nato übte, als ich das Wäldchen besuchte, und flog so dicht über die Köpfe, daß man sich spontan zu Boden werfen wollte. Hier ist keine Idylle zu finden, sondern ein Beispiel.

Was wäre denn ein Beispiel?

Harald Finke und Carl Vetter wollen kein Beispiel geben, sie suchen vielmehr eines. An der Natur lassen sich keine Exempel mehr statuieren — weder im optimistischen Geiste von der Renaissance bis zur Aufklärung, da man noch glaubte, das eigentliche Wesen der Natur durch den Geist erst sichtbar zu machen, noch im reklamierenden Sinne postmoderner Verlustbeklagung. Die Verletzungen sind zu tiefgreifend, zu wesensverändernd, als daß Ursprünglichkeit auch nur in Enklaven wiederherstellbar wäre. Und wer sich das Ziel setzt, die totale Zerstörung zu verhindern, der redet nicht ohne Grund vom Biotop anstatt vom umfassenden Begriff der Natur. Im Biotop schaffen wir einen Raum, wo sich nach Grundlagen unserer Erkenntnis Natur so entwickeln soll, wie sie sich ohne Eingriff des Menschen entfaltet hätte. Doch die Bedingungen der Eingriffe sind nicht mehr zurückzunehmen ebenso wie der Artenrückgang anstelle der natürlichen Artenvermehrung.

Seit der Mensch sich forschend und aufklärend mit der Natur und mit sich selbst beschäftigt, hat er sich nicht nur von der Natur entfernt, sie dann attackiert und heillos beschädigt, sondern ist auch selbst immer mehr der Entfremdung durch Aufklärung und dem daraus resultierenden Identitätsverlust erlegen. Das ist keine unabdingbare, aber mögliche Folge einer sich von ihren eigenen Grundlagen abhebenden Aufklärung, die sich schließlich nur noch so nennt und geschehen läßt, daß in ihrem Namen anstatt Erkenntnisschritte sogenannte Sachzwänge das menschliche Leben regieren.

Mag diese Aufklärung über ihre Perversionen auch zu einem irrationalen Funktionalismus geführt haben, so liegt doch in ihrem ursprünglichen Wesen und dem durch sie immer umfangreicher gewordenen Wissensschatz, daß wir nicht vor sie zurückgehen können, daß sie kein Vergessen gestattet, das nicht alsbald enttarnt würde, und keine einfache Umkehr in ein unbeschädigtes Dasein. Der Kunst kommt da eine entscheidende Bedeutung zu, daß sie in einem Bereich parallel zur Natur, wie Cézanne sagte, aber ebenso parallel zur reinen Begriffs- und Bestätigungswelt der Vernunft (jedoch nicht unter derem schlichten Ausschluß), in Aktionen, Zeichen und Bildern wenigstens die Ahnung, womöglich sogar die Erfahrung eines Ganzen noch rettet, eines ungeteilten Daseins. »Durch Recherchen und Analysen«, so hat Joseph Beuys gesagt, »kam ich zu der Erkenntnis, daß die beiden Begriffe Kunst und Wissenschaft in der Gedankenentwicklung des Abendlandes diametral entgegenstehen, daß aufgrund dieser Tatsache nach einer Auflösung dieser Polarisierung in der Anschauung gesucht werden muß und daß erweiterte Begriffe ausgebildet werden müssen.« Beuys erklärt das Zeitalter der Philosophie für beendet. Bewußtseinserweiterung aber sei heute ein Bedürfnis: »Hier setzt Kunst ein. Ich sage nicht, Kunst kann das alles besser als Philosophie, aber sie kann Anzeige geben, weil sie ihr Bewußtsein heute am weitesten entwickelt hat.«

Hier greift Beuys weit in die Romantik zurück, die ja ihrerseits schon die Entzweiung von Natur und Geist beklagt hatte und Schlegel zu der Überzeugung kommen ließ, daß wir eine neue Mythologie brauchen. »Die Poesie«, hat Novalis befunden, »ist das ächt absolute Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie. Je poetischer, je wahrer.« Die Kunst wird zu dem Bereich des Lebens, der noch Bewußtseinserweiterung gewährleistet, ohne sie gleichzeitig durch die Zersplitterung aller Werte der Beliebigkeit und Gleichgültigkeit anheimzugeben.

Der Wege, sich solchermaßen auf einem besonderen Gebiet dem ganzen wahren Leben wieder zu nähern, hat es verschiedene gegeben. Einer war der romantische über die symbolische Wiedereinfügung in die Natur, ein radikal entgegengesetzter der dadaistische, alles Leben zur Kunst zu erklären. Der romantische hat auf breiter Straße viele eingetretene Pfade, hat sich zu Beginn der Moderne noch einmal mit dem Idealismus verbündet und durch die Maler des Blauen Reiter eine neue Tradition begründet, ist im Bauhaus wieder aufgetaucht, aber hat sich auch aus jüngeren Quellen der Philosophie bzw. ihrer Ersetzung durch die Anthroposophie genährt. Rudolf Steiner zum Beispiel hat die Kunst und das Weltbild von Joseph Beuys sehr beeinflußt. Und sein Gedankengut läßt sich, wenn auch nicht mehr in direkter Lehre, in den Arbeitsansätzen von Harald Finke und Carl Vetter wiederfinden.

Der Mensch, der nicht nur Mensch sei, wie Finke feststellt, sondern auch Tier, Mineral und Pflanze, müsse lernen, mit diesen unterschiedlichen Teilen umzugehen. Das ist gewiß nicht durch einen schlichten Waldspaziergang zu leisten, sondern wohl nur über eine solche Art der Insel-Wahrnehmung, wie sie hier erfolgt ist. Das Ausgegrenzte wird für sich genommen, nicht — wie es ein Akt der Vernunft wäre — die Differenz beschrieben und dann die Brücke gesucht. Es gibt keinen Brückenschlag zwischen Kultur- und Naturlandschaft in diesem Projekt, sondern im Gegenteil wird der mögliche Übergang durch Grenzsteine markiert. Der Innenteil wird zur »Restnatur« erklärt, wohl wissend, daß er sich auch einmal menschlichen Eingriffes verdankt. Aber der scheint schon so lange her, daß er von der Natur fast wieder vergessen wurde, jedenfalls was die Ausgestaltung ihres Raumes betrifft.

Das Beispiel ist gefunden durch subjektive Setzung und doch zugleich objektiv als Stück Natur vorhanden. Jetzt geht es darum, es zum Bild zu verwandeln, ohne die Natur zu beschädigen, ja ohne sie zu behelligen im Sinne einer Anverwandlung, die sich selbst als Maß setzt. Die Vernunft hat ihre Aktionen beendet, Auswahl und Entscheidung über den Handlungsort getroffen, nun ist die darüber hinausreichende Kraft der Bildfindung gefragt. Und dieses Bild soll aus der Natur selbst erzeugt, vom Künstler ihr als Zeichen zugegeben werden. Er macht ihr ein Bild, das sie längst in sich trägt. Dazu verhält er sich selbst nicht vorwiegend reflexiv, sondern affektiv, will sich so nahe wie möglich der Natur bringen, was die Gegebenheiten der eigenen Personen mit einschließt. »Ich beziehe mich dabei meist auf eine >Sehhöhe< von etwa zwei Metern«, erklärt Carl Vetter, »der übrige Teil des Baumes ist im Kopf. Ich will auf dem Boden bleiben.« Und so greift er denn nicht symbolisch in die Baumkronen, sondern setzt die Akzente in dem mit dem Körper erreichbaren Raum. Adorno hat vermutet, daß vielleicht die äußerste Weise der Idiosynkrasie in der Literatur diese wieder ans Objektive heranreichen lasse. Das gilt auch für die Kunst, für diese Art der Beispielsuche, die nichts erklären will über Natur, aber sich so »einklinken« (Vetter), daß ein »Einklang mit dem Ganzen« entsteht, ein Bild aus Natur in Natur, in dem erkennbar ist, welchen Empfindlichkeiten folgend die Künstler dorthin gelangt sind. Der Rest, die Umsetzung des Bildes in Erfahrung, ist Sache des Betrachters, zu dem auch der Künstler sich rückverwandelt, wenn die Tat vollbracht ist.

Der Dialog

Zu Recht macht Ruth Falazik auf den anderen Charakter dieser Ausstellung gegenüber vorangegangenen Beiträgen zum Thema »Kunst — Landschaft« aufmerksam. Das betrifft die Art der Zeichensetzung, die diesmal ihren alleinigen Sinn in der Natur sucht, aber auch die Art der Zusammenarbeit. Beide Künstler sind auf die Insel Wald zugegangen, haben sich sie in unterschiedlicher Weise angesehen und eigene Aspekte entwickelt. Und doch ist ein Dialog daraus geworden — nicht die Konfrontation einer Diskussion, sondern Dialog als ein sich aufeinander beziehendes künstlerisches Handeln, als Form der gemeinsamen Erfahrungssuche. Dazu bedurfte es zunächst eines gewissen Gleichklangs. Beide Künstler verständigten sich beim Entwurf ihrer Konzepte über die gemeinsame Grundlage, nämlich über den Sinnraum Natur, der ihren Zeichen und Aktionen erst Geltung verleihen konnte.

Es gehört zur Grundeinstellung dieses Kunstverständnisses, daß es nicht aus dem Zweifel, dem Trieb des Unterscheidens heraus sich entwickelt, sondern aus der Suche nach Sinnräumen, in denen alles wieder mit allem zu tun hat. Daß »Eins in allem und alles in Einem sei«, heißt der zentrale Satz der Romantik, der sich auch hier wieder zitieren läßt. Der hier vollführte Dialog sowohl mit der Natur als auch zwischen den Künstlern ist kein diskursiv geführter, der beschreibt und daraus Erkenntnis entwickelt. Hier ist eine andere Erfahrungsweise gesucht als die auf dem Diskurs beruhende; denn diesem Diskurs lastet man ja die Zerstörung der Sinnzusammenhänge an. »Ich bitte dich, grüner Engel Baum«, hat Harald Finke geschrieben, »mit meinen Nachrichten, Fragen, Botschaften um weitere Zeichen.« Was den Dialog mit der Natur ausmacht, daß gemeinsam Sinnstiftung in den Zeichen gefunden werde, gilt auch für den Dialog miteinander. Im Dialog mit der Natur bringt man sich auch selbst näher, kommt zu Übereinstimmungen jenseits der Vernunft und vermag auf dieser Grundlage nun gemeinsam fortschreiten, besser noch: einkreisen; denn Fortschreiten würde ja einen Anfang und ein Ziel voraussetzen. Wer die aus dem Dialog entstandene neue Insel Wald jetzt aber betritt, wird feststellen, daß es dort zwar Grenzen, aber keinen Anfang und kein Ziel gibt. Wer ankommt, wird im Zurückgehen entdecken, daß er gerade erst begonnen hat. Man kreist ein, erlebt die Nuancen: Kontemplation ist gefragt, und zu kontemplativen Verhalten animiert diese Kunst. Das ist einer von den möglichen Wegen der Kunst heute, ein eindringlicher auch dann, wenn man dem zugrundeliegenden Animismus als Weltbild eher fragend bis zweifelnd gegenübersteht.

zur Arbeit von Finke
zur Arbeit von Vetter

Andreas Vowinckel – Text zum Symposion: Zwei Steine sind nie gleich

von Andreas Vowinckel, 1978

Künstler: Jean Clareboudt / Michael Enneper / HAWOLI / Jan Meyer-Rogge / Ladsilav Minarik / Nils-Udo / Bernhard Pagès / Karina Raeck / Janet Reichhold / Gary Rieveschl / Rudolf Wachter

I

Das Thema der diesjährigen Sommerausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« nimmt, wie schon 1977, Bezug auf die Natur, ohne aber den Rahmen so präzise abzustecken, wie mit der letztjährigen Vorgabe »Material aus der Landschaft — Kunst in die Landschaft«. Wurde hier noch eine direkte Beziehung zwischen Landschaft und Kunst hergestellt, so drückt das Thema »zwei Steine sind nie gleich« einen Gedanken aus, der, von der äußeren Erscheinungswelt der Natur abgeleitet, als Metapher auf eine grundsätzlichere Problematik hinweist. Dieser Problematik sollen sich die eingeladenen Künstler aus ihrem individuellen Verständnis heraus stellen, um so an ihrer Lösung mitzuwirken.

Es kann nicht die Aufgabe sein, an dieser Stelle die einzelnen Arbeiten auf die erzielten Ergebnisse hin zu befragen. Vielmehr soll umgekehrt versucht werden, zu klären, welche Absichten Ruth Falazik als Veranstalterin und Organisatorin der Sommerausstellungen mit dieser Themenstellung verfolgt und welche Überlegungen ihr zugrunde liegen. Denn erst die Verbindung zwischen dem idellen Ausgangspunkt der Galeristin und den von den Künstlern geschaffenen Werken geben eine Vorstellung von dem Sinn und Zweck, schließlich auch dem Erfolg der gemeinsamen Arbeit.

Wie berechtigt und notwendig die Fragestellung ist, ergibt sich schon allein aus der Tatsache, daß überhaupt ein Thema gestellt wird und dieses nicht das Ergebnis einer gruppenbezogenen Arbeit zwischen der Galeristin und den Künstlern ist. Um die Thematik für die diesjährige Ausstellung erschließen zu können, ist es notwendig, die bisherigen Sommerausstellungen in die Analyse mit einzubeziehen.

II

Der Ausgangspunkt für die Sommerausstellung 1972 war die Situation der Galerie selbst: einer Galerie, die sich nicht nur für die zeitgenössische Kunst engagiert, sondern zugleich auch die Funktion der Kunst in der Gesellschaft hinterfragt hat. Fernab des großstädtischen Kunstbetriebs suchte sie daher in einer ländlichen Umgebung und bäuerlichen Gesellschaftsstruktur nach neuen Formen der Kunstvermittlung, die die Kunst aus dem Kreislauf einer rein individualistisch geprägten Kunst-um-der-Kunst-willen herausführen und wieder als ein kreatives Mittel in den Prozeß der Veränderung von Gesellschaft integrieren sollte.

Mit der »Aktion Heidebild« ging es darum, das im allgemeinen von romantischen Gefühlen und Sehnsüchten besetzte Bild einer Landschaft wie das der Lüneburger Heide im Spiegel der Vorstellungen zeitgenössischer Künstler mit den Mitteln der Ironie zu problematisieren. Die Ausstellung versuchte damit der Bevölkerung ihre meist irrationalen, vom täglichen Leben gänzlich unabhängigen Einstellungen der Landschaft gegenüber als Klischeevorstellung bewußt zu machen, ihr gleichzeitig jedoch über die Thematik einen Zugang zur zeitgenössischen Kunst zu ermöglichen. Im Ergebnis deckte sie andererseits ein zutiefst verunsichertes, ja gebrochenes Verhältnis der Künstler nicht nur dem Thema Lüneburger Heide, sondern dem Aspekt Landschaft überhaupt gegenüber auf, wie es an der ironischen Distanz abzulesen war, die die meisten Ausstellungsbeiträge kennzeichnete.

Die »Aktion Heidebild« machte exemplarisch auf zwei verschiedenen Ebenen ein Phänomen sichtbar, das ein wesentliches Merkmal der modernen Industriegesellschaft ist: die Entfremdung. Das heißt die Entfremdung des Künstlers von der Natur und andererseits die Entfremdung der bäuerlichen Bevölkerung von der Kultur. Beide Gruppen, das lehrte die Ausstellung, leben in einem von sozialen Faktoren abhängigen geistigen Getto, das zu überwinden eine zentrale Aufgabenstellung wurde. Es galt nicht nur gesellschaftliche, sondern besonders auch intellektuelle Barrieren einzureißen und einen wechselseitigen Lernprozeß auf der Seite der Bevölkerung und der der Künstler an grundsätzlichen Problemen von gemeinsamem Interesse in Gang zu setzen.

III

So griff Ruth Falazik nach einer Ausstellung zum Thema »Reale und irreale Räume« in einem nächsten Schritt den urbanen Hintergrund der Galerie, das Dorf Neuenkirchen, als Rahmen der Sommerausstellung 1974 auf. Unter dem aIs Herausforderung gemeinten Gesichtspunkt »Kunst — Dorf« wurden dem dörflichen Ambiente Freiplastiken, die nicht speziell für diese Ausstellung geschaffen worden waren, bewußt als »Signale und Embleme« entgegengesetzt. Durch diese kompromißlose Konfrontation von zwei völlig verschiedenen Realitätsebenen gelang es, die ästhetischen Maßstäbe, nach denen die Plastiken konzipiert waren, wie auch die Ästhetik der ihnen fremden sozialen Umwelt nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch zu problematisieren. Denn hier wurde der gesellschaftliche Standort der Künstler, der, scheinbar autonom, von der sozialen Struktur einer bäuerlichen Umwelt weit entfernt ist, ebenso faßbar, wie auch das kulturelle Vakuum der Dorfgemeinde in seiner Distanz zu dem hochgeschraubten intellektuellen Anspruch der Künstler.

Diese konkrete Erfahrung der gesellschaftlichen Isolation der Künstler und damit eng verbunden die Infragestellung der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Arbeit forderte einen Umdenkungsprozeß heraus. Dieser wurde zwar schon — ganz allgemein betrachtet — in einem ersten sozialkritischen Ansatz nach dem Ersten Weltkrieg von »Dada« und später in den fünfziger Jahren von den Künstlern der Pop Art paradigmatisch thematisiert, aber erst in Verbindung mit der Kritik am Selbstverständnis der kapitalistischen Systems, unabhängig vom sozialistischen Realismus, im Zuge der Studentenrevolten in den USA, wie auch in den europäischen Ländern im Werk vieler Künstler Gegenstand gesellschaftskritischer Inhalte.

IV

Dieser Umdenkungsprozeß fand im deutsch-französischen Medien-Symposion der Galerie Falazik zu den Bereichen »Foto — Film — Video« mit einer abschließenden Sommerausstellung 1975 eine entscheidende Vertiefung. Zum erstenmal setzten sich Künstler, die von Ruth Falazik und dem Deutsch-Französischen Jugendwerk eingeladen wurden, vor Ort, in einer gruppenbezogenen, auf Erfahrungsaustausch ausgerichteten Arbeit mit den urbanen Gegebenheiten, mit den sozialen Verhältnissen der Bevölkerung, ihrer Geschichte, ihrem Bild von Kunst und Künstlern und der Landschaft auf eine Weise auseinander, die dem Charakter der Medien als Kommunikations- und Informationsmittel entsprach. So ersetzten in einem Funktionswandel des künstlerischen Denkens und Handelns von nun an inhaltliche Fragestellung, wie sie seit Anfang der siebziger Jahre unter dem Begriff »Spurensicherung« mit anthropologischem, archäologischem oder autobiographischem Interesse entwickelt wurden, die formalästhetische Selbstdarstellung der Medien. Diese wurde besonders im Werk amerikanischer Foto-, Film- und Video-Künstler der sogenannten Concept- und Process Art dazu herangezogen, mit Hilfe einer differenzierten Mediengrammatik, Wahrnehmungsmechanismen als konstituierende Elemente eines radikal subjektiven und daher absoluten Wirklichkeitsbegriffs nachvollziehbar und damit bewußt zu machen.
Die zufällig herausgegriffenen Szenen des täglichen Lebens in Neuenkirchen aber, die mit der Videokamera aufgezeichnet wurden, die Fotodokumente, Zeugnisse und Objekte tatsächlicher Ereignisse aus Vergangenheit und Gegenwart, spiegeln Erfahrungen und Traditionen, somit Geschichte wider. Sie vermitteln ein Bild der Menschen und der Umwelt, in dem sich die Bevölkerung von Neuenkirchen nicht nur selbst wiedererkennen, sondern mit dem sie sich, ebenso wie die Künstler, in einem Prozeß der Selbstbefragung und Selbstfindung, identifizieren konnte. Damit wurde der erste Schritt vollzogen, die Entfremdung durch die Identifikation mit einem gemeinsamen Inhalt von existentieller Bedeutung zu überwinden.

V

Was aber hat für die bäuerliche Bevölkerung eine größere existentielle Bedeutung als das Land, das sie kultiviert, von dem sie lebt? — Damit rückte die Landschaft in das Blickfeld: eine Landschaft wie die Lüneburger Heide, die sich ganz konkret als Träger von Kultur, von Mythos behaftet, mit einer in die Vorzeit zurückreichenden Geschichte, offenbarte. Es war kein Zufall, daß die anthropologischen Forschungen von Carlos Castaneda, die er über die Lehren des mexikanischen Yaki-lndianers Don Juan veröffentlicht hat, die Bedeutung von Landschaft bewußt gemacht und Ruth Falazik in einer konsequenten Erweiterung der bisherigen Fragestellungen angeregt hat, die Sommerausstellung 1976 mit dem Thema » Plätze der Macht — Orte der Kraft« durchzuführen.

Der »Weg des Wissens«, den Castaneda autobiographisch als eine schrittweise erkenntnisphilosophische und damit identifikatorische Annäherung an die Einheit, das heißt absolute Realität von Natur und Bewußtsein beschrieben hat, wurde für die eingeladenen Künstler zu einer Herausforderung, die traditionellen, das heißt ästhetischen Beziehungen zwischen Landschaft und Kunst in Frage zu stellen. Nun ging es darum, die Kategorien von Raum und Zeit als Bezugspunkte einer neuen dialektischen Standortbestimmung zu begreifen: »Plätze der Macht — Orte der Kraft«, das bedeutete die Einheit, ja Identität zwischen der objektiven Realität der Natur und der subjektiven Realität einer aus der Auseinandersetzung mit der Natur gewonnenen Erkenntnis anschaulich, das heißt konkret sichtbar zu machen.

Dies setzte die Bereitschaft der Künstler voraus, sich selbst nicht nur mit dem Charakter und dem Wesen der Landschaft um Neuenkirchen intensiv zu beschäftigen, sondern sich darin auch von ihr in Frage stellen zu lassen. Den Ergebnissen ihrer Arbeit, die weiträumig über die Landschaft verstreut sind, gelang und gelingt es — was besonders auch für die Sommerausstellung von 1977 »Material aus der Landschaft — Kunst in die Landschaft« wie für die diesjährige Ausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« gilt, die die aufgegriffene Thematik schrittweise präzisieren — den Zusammenhang von Natur und Kultur für den Betrachter wie auch für den Künstler anschaulich zu problematisieren.

In den von der Galerie durchgeführten Symposien, die die Künstler bewußt für längere Zeit in eine kommunikationsintensive Arbeitsgemeinschaft zusammenführen, geht es daher nicht um eine romantische »Zurück-zur-Natur«-Bewegung, sondern vorwiegend um die Aufdeckung von Fakten, die im Unterbewußtsein vieler Künstler ihr subjektives Denken und Handeln bestimmen. Sie gewinnen durch die Veranschaulichung mit Materialien der Natur, wie Erde, Steine, Rasen, Bäume usw., im Kontext der Landschaft objektiviert, exemplarische Bedeutung und damit als ein Identifikationsfaktor gesellschaftliche Relevanz. Ihre in den Skulpturen, Objekten und Erdarbeiten gestaltete Realität vermag in der Wahrnehmung der Betrachter einen Prozeß der Bewußtwerdung auszulösen, der seinerseits zu einer neuen Standortbestimmung gegenüber Natur und Kultur führen kann.

Darin liegt die weitreichende und grundsätzliche Bedeutung dieser Konzeption für die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst, wie auch für ihre Rezeption als Ausgangspunkt einer neuen Beziehung zur Wirklichkeit. Denn hier wird ein Reflexionsprozeß in Gang gesetzt — zwei Steine sind nie gleich –, der eine philosophische Dimension annimmt. Er geht über die Konzeptionen hinaus, die, etwa im Werk von meist amerikanischen Künstlern der sogenannten Land Art, wie Robert Smithson, Michael Heizer, Richard Long und Dennis Oppenheim bis zu George Trakas oder Nancy Holt, mit Hilfe oder unter Einbeziehung der Natur und ihrer Materialien, in Analogien zu ihr, Mechanismen der Wahrnehmung und des Denkens phänomenologisch veranschaulichen und bewußt machen wollen.

Claus Bury – Der Augenblick (1989/2001)

Claus Bury, geb. 1946 in Gelnhausen, lebt in Frankfurt.

Am Rande eines kleinen Teiches unweit des Dorfes errichtete Claus Bury aus rohen Brettern eine durchschreit- und begehbare architektonische Skulptur – halb Haus, halb Turm. Wirkt der Bau von außen kompakt und klar gegliedert, erweist sich die Anlage beim Begehen als räumlich komplexes Gefüge. Gegenüberliegende Außentreppen führen von den Seiten hinauf zu einem Innenraum mit hohen, schrägen Wänden und ohne Dach.

Vom oberen Raum bietet sich kein bequemer Ausblick über den Teich und die Landschaft. Lediglich vom schmalen obersten Absatz zweier seitlicher Treppen kann man über die Brüstung sehen. Die Stufen laden vielmehr zum Sitzen und Verweilen im Inneren des Turmes ein. Hier entsteht ein Ort der Ruhe und Kontemplation, in dem der Blick nach innen gelenkt wird.

Katalog: Claus Bury. Der Augenblick. Text: U. Wieczorek, 1989, 72 S. € 10 / Mitgl. € 7,50

Text von U. Wieczorek

Uwe Wieczorek – Der Augenblick

Jahr 1989
Titel Der Augenblick
Künstler Claus Bury
Autor Uwe Wieczorek

Die ersten fünfzehn Stufen sind schnell überwunden, sie verlangen mir keine besondere Mühe ab. Meine Beine, leicht erschöpft vom langen Spaziergang durch das umliegende Heideland, empfinden den Aufstieg als wohltuende Veränderung des gleichförmigen Bewegungsablaufes. Vor die Entscheidung gestellt, den letzten sechs Stufen nach links oder rechts zu folgen, um auf einer der beiden sich gegenüberliegenden Sitzgelegenheiten Platz zu nehmen, gibt die Schattenseite den Ausschlag.

Als der Körper zur Ruhe kommt, bemerken die Augen, daß der erhöhte Standort nicht mit einem Blick auf die Landschaft verbunden ist. Einen Moment lang empfinde ich Enttäuschung. Das ganz aus Holz gezimmerte Gehäuse gibt allein die rechteckig umgrenzte Sicht zum Himmel frei. Dieser aber macht mich augenblicklich zum Zeugen eines wunderbaren Ereignisses: zarte Wolken verteilen sich in lautlosem Zuge vor der blauen Himmelsfolie, als setze ein von großer Hand geführter Pinsel flüchtig sie dort hin. Es müßte ein Glück sein, sie mit eigener Hand so leicht aufs Papier zu bringen. Mein Blick senkt sich — vor den Bretterwänden erscheinen nun jene Bilder, die ich während des Weges durch die Heidelandschaft in mich einfließen ließ. Ich rieche das frische Holz, höre die Geräusche der Umgebung, spüre den Rhythmus des Herzens und der Atmung. Nichts sonst passiert.

Ich kenne diese Ruhe. Oft schon bin ich ihr im Werk Claus Burys begegnet. Sie stellt einen Wesenszug vieler seiner architektonischen Skulpturen dar, resultiert aus der Homogenität der Formen, ihren Proportionen, den ihnen zugrundeliegenden Konstruktionsprinzipien, dem Werkmaterial, der inneren Bereitschaft des Menschen, Ruhe als Faktor in der Kunst zu akzeptieren, mehr noch: zu suchen. Von einer Ruhe muß gesprochen werden, die nicht Stillstand bedeutet, sondern Bewegung, physische und mentale Bewegung, welche freilich nicht in körperliche und geistige Unrast umzuschlagen gedenkt.

Unrast ist auch dort nicht spürbar, wo Bury anfänglich Wind und Gezeiten ein offenes Spiel mit beweglichen Elementen, Leinentüchern beispielsweise, gestattet, denen provisorisch anmutende Holzkonstruktionen in Skelettbauweise den eben noch erkennbaren Charakter des Skulpturalen verleihen. Bildhaft treten die frühen Werke in Erscheinung — vor einem fernen Küstenstreifen Australiens etwa 1. In diesem bildhaften „In-Erscheinung-treten“, das transitorisch gemeint ist, da Naturkräften die baldige Zerstörung des Werkes überlassen wird, hat die physische Präsenz des Menschen noch keine zwingende Erfordernis.

Noch zeigt sich Burys Arbeit in jenem Denken der sechziger und siebziger Jahre befangen, das um die Begriffe „Anti-Form“ und „Prozeß-Kunst“ kreist. Zur eigenen, unverwechselbaren Sprache findet der Künstler Anfang der achtziger Jahre, als nicht mehr das Werk selbst, oder Teile desselben, sondern der das Werk durchschreitende und ergründende Mensch in Bewegung gerät 2. Dieser tritt nun einer Form gegenüber, die nicht mehr auf die Sichtbarmachung materieller Prozeßabläufe zielt. Tektonisch stabilisiert, gleichwohl um Offenheit bemüht, verbirgt die Skulptur nicht ihre innere Struktur, ist vielmehr ein Resultat derselben und läßt daher Rückschlüsse auf sie zu. Doch gibt sie sich voll erst im Zuge ganzheitlicher Wahrnehmung zu erkennen. Der Teilnehmer ist aufgefordert, im wörtlichen und übertragenen Sinne vom Werk Besitz zu ergreifen, sich innerlich und äußerlich zu ihm in Beziehung zu setzen, die eigene Körperlichkeit zu erfassen in der Körperlichkeit der Form, den eigenen Rhythmus zu finden im Rhythmus der Struktur, das eigene Gleichgewicht auszuloten im Gleichgewicht der Teile zum Ganzen, des Ganzen zu den Teilen, dem Organischen des Werkmaterials (Bury bevorzugt weitgehend unveredeltes Holz) das Organische der eigenen Physis gegenüberzustellen, das Gemeinsame, aber auch das Trennende zwischen Ich und Kunstwerk abzuwägen, in einer individuellen, und das heißt unteilbaren Stellungnahme. Zu dieser Stellungnahme fordert Claus Bury auf, und der mit seinem Werk Befaßte erkennt schnell, daß sich der Sinn der Bewegung von Körper und Geist nicht im Unterwegs-Sein, sondern im Da-Sein des Menschen erfüllt. Nur wer mit den Sinnen und dem Verstand umfassend gegenwärtig ist, vermag mit dem Werk einen offenen, aber stillen Dialog zu führen.

Bury bietet keine beliebigen Formen an, keine, die Folge einer Laune, eines Capriccio waren. Nichts ist dem Zufall überlassen (hierin zeigt sich der tiefgreifendste Unterschied zu den frühen Prozeß-Werken), jedes Detail gehorcht einer übergeordneten Großform, die Großform wiederum gibt sich als Ergebnis einer mathematisch-geometrischen Gesetzmäßigkeit oder als Erbe eines historisch überlieferten Architekturtypus zu erkennen. Auf diesen beiden Pfeilern ruht Claus Burys Werk. Sie sind ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis und stecken den konzeptuellen Rahmen der Formentwicklung ab. Beispielhaft nenne ich drei Werke: „Fibonaccis Tempel“ (Köln, 1984), „Im Goldenen Schnitt“ (Frankfurt, 1988/89), „Stadtportal Nürnberg“ (Nürnberg 1986/89).

Der nicht mehr in situ befindliche „Fibonacci-Tempel“ macht mit einer organisch wachsenden Zahlenreihe vertraut, die, ähnlich wie Le Corbusiers „Modulor“, auf den italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci (1170-1240) zurückgeht: 1,1, 2, 3, 5, 8,13, 21 etc. Sie ist nicht realitätsfernes Konstrukt eines geistreichen Kopfes, sondern entspricht einem natürlichen Entwicklungsgesetz, das sich in mikro- und makrokosmischen Spiralformen, etwa einzelnen Schnecken oder Milchstraßensystemen aufspüren läßt. Sorgsam hat Bury die Zahlensequenzen seines „Tempels“ auf Zeichnungen notiert 3. In sämtlichen Abmessungen sind sie wirksam, betreffen Grundriß und Aufriß gleichermaßen. Selbst der mit Fibonacci nicht Vertraute spürt beim Durchschreiten und Betrachten des einem Tortenstück nicht unähnlichen skulpturalen Gebildes die in diesen Sequenzen begründete Harmonie. Sie birgt Ruhe in der Bewegung, Bewegung in der Ruhe. Der Mensch tritt, wenn er ’seinen‘ Ort im Inneren des „Tempels“ gefunden hat, an die Stelle des antiken Götterstandbildes. Doch steht nicht der anmaßende und gleichfalls antike Wahlspruch vom „Menschen als Maß aller Dinge“ dahinter. Seinen Ort im System einer ’natürlichen‘ Gesetzmäßigkeit zu finden, heißt, die Bedingtheit der eigenen Existenz zu begreifen, die Schutz bietet vor lebensbedrohlicher Hybris.

Der in Frankfurt errichteten Skulptur „Im Goldenen Schnitt“ 4 liegt eine Konstruktionsmethode zugrunde, die vielen geläufig ist — geläufiger zumindest, als Fibonaccis stetig wachsende Zahlenreihe. Sie ist, mit einer bis auf den griechischen Mathematiker Euklid (ca. 365-300 v. Chr.), ja bis auf die Pythagoreer zurückgehende Tradition, umwoben von einer nahezu mythischen Aura. Ihre Formel ist hier nicht interessant. Nur soviel sei gesagt, daß sich bei einer nach dem „Goldenen Schnitt“ unterteilten Strecke der kleinere Abschnitt zum größeren proportional so verhält, wie der größere Abschnitt zur gesamten Strecke. Italienische Künstler der Renaissance entdeckten ihn neu und trugen, indem sie ihn „golden“ nannten, zu seiner Auratisierung bei. Vor allem zur Unterteilung von Flächen diente er: auf Gemälden ebenso wie auf den Fassaden von Kirchen, Villen und Palästen. Überall dort, wo er zur Anwendung gelangte, war er Ausdruck eines über jede Zufälligkeit und Kurzlebigkeit erhabenen Harmoniebewußtseins. Bury weiß um diese Bedeutung. Neu an seiner Skulptur ist, daß sie den „Goldenen Schnitt“ nicht in seiner Anwendung auf Flächen, sondern als Form gewordene Konstruktionsmethode anschaulich macht. Erkennbar sind die Geraden und segmentalen Zirkelschläge, derer es bedarf, um jenen Punkt ausfindig zu machen, der besagte Strecke, sie verläuft hier parallel zum Erdboden, in zwei verschieden große Abschnitte unterteilt. Ein geometrisches Abstraktum konkretisiert sich zum plastischen Erlebnisraum. Der in ihm Umherschreitende begreift ihn als Medium der Auseinandersetzung und der Besinnung: der Auseinandersetzung mit dem urbanen Umfeld, auf das er kritisch Bezug nimmt; der Besinnung auf die eigene sensitive Resonanzkapazität, die im Zuge wachsender Rationalisierung der menschlichen Lebensbereiche nachhaltig zu verkümmern droht.

Im „Nürnberger Stadtportal“ 5 formiert sich ein baugeschichtlicher Archetypus. Er ist noch heute im einstigen Wirkungsbereich der Etrusker anzutreffen: die aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. stammende „Porta Augusta“ in Perugia. Bury mildert die fortifikatorische Strenge des Vorbildes, indem er die ,Landseite‘ seines eigenen Portals leicht anschrägt und die den Durchgang flankierenden Pfeiler der ,Stadtseite‘ segmental ausbuchtet. In ihnen führen Treppen zu einem quer über dem Portaldurchgang liegenden Gang, dessen Bodenfläche der Schrägstellung der ,Landseite‘ entspricht. Ein Thermenfenster schafft Öffnung zur Außenwelt.

Portal und Treppe, Durchgang und Übergang erfüllen keine praktischen Funktionen. Sie bilden, ganz im Sinne etruskischer Raumvorstellungen, denen Bury vor Ort, in Etrurien, nachgegangen ist, Metaphern eines Wechsels menschlicher Realitäts- und Bewußtseinsebenen. Der am Werk Teilnehmende fühlt und weiß sich in einem architektonischen Kontext aufgehoben, auf den nicht ohne kulturelles Elend verzichtet werden kann. Hierauf machen Burys baugeschichtliche Anleihen aufmerksam.

Es gibt Kunstwerke, die durch einen äußeren Anlaß motiviert sind und diesen erkennbar widerspiegeln. 1983 jährte sich zum hundertsten Male das Bestehen der Brooklyn-Bridge in New York, das mit einem Skulpturwettbewerb verbunden wurde. Claus Bury errichtete im New Yorker Madison Square Park eine Skulptur 6, die das Motiv des Brückeschlagens anhand eines dreikantigen Eisenträgers versinnbildlicht. Er verbindet zwei aus Holz konstruierte Pyramidalformen, welche durch eine schmale Passage voneinander getrennt sind, die der Breite eines menschlichen Körpers entspricht. Indem nun der einzelne Mensch sich in diese Passage hineinstellt, wird er selbst zu einem lebendigen Element des Brückeschlagens, das den über ihm schwebenden Eisenträger kontrapunktisch paraphrasiert.

Als direkte Auftragsarbeit präsentiert sich der 1986 im Duisburger Kant-Park installierte „Mercator“, benannt nach dem gleichnamigen niederländischen Mathematiker, Kartograph und Geograph, der 1512 in Duisburg geboren wurde. Wie ein zur Hälfte dem Erdboden entwachsener Globus, bestehend aus schräg in Szene gesetzten Schnittebenen und ,Meridianen‘, nimmt das Werk Bezug auf die Arbeit seines Namensgebers. Begehbar, wie alle Großskulpturen Burys, erlebt der Betrachter die Raumkoordinaten nicht nur als simple Anspielung auf die Schrägstellung der Erdachse. Sie sensibilisieren mit der Suche nach dem körperlichen Gleichgewicht, das es auf den schrägen Ebenen zu finden gilt, zugleich das Bewußtsein für das labile Gleichgewicht auf unserem Globus selbst, welches wir durch ignorante Sorglosigkeit gefährlich destabilisieren.

Um eine politisch-kulturelle Alternative geht es Bury mit seinem 1987 entstandenen Modell für ein „Museum für Neue Deutsche Geschichte in Berlin“ 7. In selbstbewußter, sich von fremden Grenzziehungen unbeeindruckt gebender Geste überwölbt ein brückenartiger Baukörper, der auf zwei getrennten Sockelgeschossen ruht, jene Mauer, die Berlin in einen Ost- und einen Westteil scheidet. Jedes Sockelgeschoß beherbergt, jeweils auf der ,richtigen‘ Seite der Mauer, Zeugnisse der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik, bzw. der DDR. Über den Sockelgeschossen setzt ein fensterloses, beide Sockel miteinander verbindendes Zwischengeschoß an, das die Zeit des Nationalsozialismus als letzten Abschnitt gesamtdeutscher Geschichte dokumentiert. Es fungiert zugleich als „Gedenkstätte aller Opfer des Naziterrors“. Darüber erhebt sich das treppenförmig abgestufte, von Segmentbögen überspannte Obergeschoß, in dem die deutsche Geschichte bis 1848 zurückverfolgt werden kann. Museum und deutsch-deutscher Grenzübergang — das Gebäude soll von beiden Seiten Berlins zugänglich sein — bringt Bury mit diesem Projekt die Überzeugung zum Ausdruck, daß nur das kritische Bekenntnis zu einer gemeinsamen Geschichte den Boden für grenzüberschreitende Verständigung bereitet. Burys Museums-Alternative erweist sich somit als ein Projekt konkreter Utopie, das sich der zeitgeschichtlichen Aktualität seiner Aufgabe bewußt ist.

Obwohl ich mich lediglich für einen Augenblick in dieser hölzernen Behausung aufzuhalten gedachte, habe ich nunmehr doch eine längere Zeitspanne darin verbracht. Niemand stieg zu mir herauf, um den gegenüberliegenden Platz einzunehmen. Ich hätte diesen Raum nur mit einer vertrauten Person teilen wollen, zu einem nur sie und mich betreffenden Gespräch — oder zum Schweigen. So nutzte ich das Alleinsein, um meine Gedanken zu sammeln. Mit einem letzten Blick zum Himmel steige ich die Treppen hinab, vertausche das Innen mit dem Außen, das Oben mit dem Unten. Auf dem Erdboden angelangt, über dem sich das Werk ganz unprätentios erhebt, vergegenwärtige ich mir noch einmal dessen Gestalt.

Der trapezförmige Unterbau, dessen ebenerdiger Durchgang mit den beiden anliegenden Treppenläufen ein Achsenkreuz bildet, erinnert mich entfernt an mesoamerikanische Pyramiden. Hierüber erhebt sich der archaisch anmutende, kastenartig geschnittene Oberbau, dessen Schmalseiten sich leicht nach außen neigen. Er nimmt die beiden fünfzehnstufigen Treppenläufe in sich auf, die in seinem Inneren eine kleine Plattform ergeben, von der, rechtwinklig abzweigend, je weitere sechs Stufen zu den beiden sich gegenüberliegenden Sitzbänken führen. Daß man von diesen nur in den Himmel zu blicken vermag, ist von unten nicht erkennbar. Freilich läßt sich, indem man mit Füßen die Sitzbank betritt, über den oberen Rand schauen. Doch gerade diese Möglichkeit, die vielleicht als Versuchung empfunden wird, zeigt sich als die am wenigsten angebrachte. So vermeidet der das Werk Begreifende, es zu einem Aussichtsturm zu degradieren.

Den unteren Durchgang benutzend, verlasse ich den Ort. Er ließ mich mehr als einen AUGENBLICK lang bleiben. Ich werde gerne zu ihm zurückkommen.

Anmerkungen

1) „Wave Sculpture“, 1979, Palm Beach, Sidney, Australien.

2) Vgl. „Raumverschiebung“, 1981, Dreieichpark, Offenbach, sowie „Two Elevated Walkways“, 1982, Moore College of Art Gallery, Philadelphia, P.A., U.S.A.

3) Den dort anderslautenden Zahlenfolgen, etwa 30, 60, 90, 150 und 240, unterliegt das gleiche Prinzip wie der Zahlenfolge, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 etc. Immer resultiert nämlich eine Zahl aus der Addition der beiden vorausgehenden Zahlen. In eine graphische Darstellung übertragen, ergibt sich aus der Fibonacci-Reihe eine Spirale.

4) Frankfurt am Main, Konstabler Wache, 19. 4. – 28. 5.1989.

5) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, 17 3.1989 – 7.1.1990.

6) „Bridge-Project“, 1983, Madison Square Park, New York, N.Y, U.S.A., Sammlung Jack Lenor Larsen, New York, N.Y.
zur Arbeit von Bury

Detlef Wittkuhn – Bugrovs Speculum mundi

Jahr 1991/2000
Titel Himmel und Erde
Künstler Valerij Bugrov
Autor Detlef Wittkuhn

Bugrovs Speculum mundi

Valerij Bugrov schreitet den Platz für seinen Spiegel, ein Stück wilden Grases zwischen Feldern, ab, sechzehn Schritte, achtzehn, fünfzehn, wieder sechzehn, er legt Steine als Markierung. Die Ausdehnung der Fläche ist gefunden. In der Mitte, bei acht Metern, breitet Bugrov die Arme aus, umfaßt das Kunstwerk: Die stereometrische Figur eines kugelförmigen Raums nimmt ihre fiktive Gestalt an.

In der Weite der Landschaft, unter der Höhe des Himmels, mit den Füßen auf der Erde, im Geist auf einer den Himmel reflektierenden Scheibe stehend, bemaß Bugrov ein Speculum mundi, einen Spiegel der Welt. Die Gewißheit der Proportionen, die Überzeugung, wie groß die Fläche sein muß, in welchem Verhältnis Leib, Kreisfläche und imaginierter Raum Harmonie erreichen, kam intuitiv zustande. Die vom Kunstwerk erhoffte katoptrische Erlebnisform von Orientierungsverlust und gleichzeitiger räumlicher Vergewisserung verdankt sich keiner „göttlicheren“ Maßeinheit als dem Körper des Menschen.

Vom Feldweg kaum zu sehen, schneidet der Spiegel ein Loch in den Boden. Eine immerglatte Fläche, um die herum alles wächst und wieder vergeht. Die Abmessungen des Spiegels bleiben nüchtern, ein Kreisrund von 16 Metern Durchmesser, über 200 Quadratmeter. Steht man davor, beeindruckt das Volumen. Der Spiegel behauptet eine imponierende Präsenz, er beherrscht die empfundene Räumlichkeit. Und doch ist er den landschaftlichen Dimensionen zugemessen, Teil des Flachlands. Dieser Widerspruch ist konstitutiv für jeden Eindruck hier zwischen Himmel und Erde.

Wie ein Unbetretbares breitet sich die Fläche. Der Betrachter, Paria vor diesem See wie aus gefrorenem Eis, mag sich in Bewegung setzen, das zerbrechlich wirkende Material umrunden. Im rechtwinkligen Gitterwerk der Spiegelstücke bildet sich der Himmel ab. Kommen entfernt stehende Bäume ins Bild, hängen sie an der Kante des Kreises, graphisch zerlegt durch das Fugennetz, darüber gestaffelt das Original wie eine Kulisse. Doch die Spiegelteile tragen, man kann hinaufwandern auf die Membran zwischen der Lufthülle über dem Kopf und dem Himmelssack unter den Sohlen. Wolken ziehen unter den Füßen vorbei, man beugt sich zu ihnen herunter und berührt doch nur die eigenen Fingerspitzen. Ein weiterer, abschüssiger Weg führt in den Spiegel durch den Einschnitt vom Rand her, das Eis wird gebrochen. Durch den engen, wie eine Saite fein und exakt gezogenen Pfad gelangt man immer tiefer zum Zentrum des Kreises, der eigene Nabel berührt den Mittelpunkt dieser Erde. Nirgendwo sonst befindet man sich in einem Mittelpunkt der Welt, es sei denn in einer willkürlichen geometrischen Setzung wie dieser. Der Spiegel definiert den Maßstab von Leib und gedoppeltem Kosmos, er öffnet den Dialog zwischen Mensch und Universum.

In einem ausgemessenen Gelände von Waldstreifen und Ackerpatchwork wirkt der runde Spiegel wie ein mysteriöser Eingriff — ähnlich den Kreisflächen niedergedrückten Getreides in Südengland, auch wie ein gänzlich unirdisches Zeichen. Der Spiegel ist ein Artefakt in der Landschaft, nichts in dieser Gegend verfügt über die arithmetische Vollkommenheit des Kreises, keine Form sonst besitzt die Simplizität der radialen Bewegung. Vielleicht ist es diese in so reiner Form sich ausdrückende Fremdheit des Spiegels, die an Science-fiction und kosmische Menschheitserfahrung denken laßt. Andrej Tarkowskij setzte Stanislaw Lems unerhörte „Solaris“-Vision in ähnliche Bilder: ein galertartiger Ozean, flüssige Materie, die denken und Gesichte erzeugen kann, Abbilder verdrängter Erinnerung. Einmal derart halluziniert, mag man Bugrovs Speculum mundi magische Potenzen antragen, im Spiegel Tätigkeit und Eigenbewegung vermuten. Denn der Spiegel ist fortwährender Monitor kontinuierlicher Zeit. Er sieht, ohne zu speichern, er beobachtet, ohne mitzuteilen. Er weckt die Fiktion von der Permanenz des Geschehenden, die sich in der menschlichen Existenzweise von Wachen und Schlaf teilt und zersplittert. Nachts wird er einer der „schwarzen Spiegel“, die Arno Schmidt in der Heide sah. Die verdunkelnde Hülle des nächtlichen Himmels öffnet sich durch Bugrovs Spiegelauge zu einer unendlichen Passage. Eine Astralreise könnte von hier ihren Ausgang nehmen. Man gesteht die Scheu, bei Nacht in einen Spiegel zu schauen, wo man Jenseitiges zu sehen fürchtet. Auf dem Grat zwischen Vakuum und Tiefe, Standfestigkeit und Schwerelosigkeit verwehrt das Glas als Scheidewand den Wunsch, ins Universum zu tauchen.

Wenn die Phantasie weit ausgreift, trifft sie sich vielleicht mit der Imagination des Künstlers — oder überholt sie. Denn noch nie war Bugrov seinem Publikum voraus, auch er erwartet die Überraschungen des Materials. Bis zur Fertigstellung des Kunstwerks erkunden Zeichnungen die Idee. Mit Pinsel und Bleistift modelliert Bugrov auf Papier das noch fiktive Objekt. Während Bauunternehmen auf dem Weg der Realisierung des für sie ungewöhnlichen Auftrags manchmal neue Methoden entwickeln, entstehen im Künstleratelier gemalte Visionen des werdenden Objekts. In verschiedenen Phasen zeichnet Bugrov den Spiegel in der Weltenlandschaft: In einer Serie zerfasern sich Wolkenballen unter der Scheibe des Mondes und stürzen in den schmalen Spalt am Boden. Am Horizont folgen die Graphitschraffen der Erdkrümmung. In anderen Zeichnungen beherrscht der blanke Kreis eine quellende Heidedecke wie ein eingesunkener Pfropf, Wacholder umstehen das zyklopische Nichts als stumme Zeugen. Bugrov interpretiert die Heidelandschaft als ursprünglichen Ort, in dem sich der Spiegelkreis wie ein antikes Forum ausnimmt. In einer späteren Arbeitsphase sucht der Künstler den Anblick des Spiegels aus den Wolken, und allmählich verstärkt sich die Vorstellung des Spiegels als imeginäre Kugel. Sie ist seit der Aufklärung Symbol der Gleichheit und Vollkommenheit, Zeichen gewordene Utopie der allseitig gleichmäßig entfalteten Fähigkeiten des Menschen, Grundlage des intakten Staatswesens, und der Harmonie des Universums. Dessen Sonnen streben vom Zentrum in alle Richtungen im Gleichmaß. Die Scheibe als Schnitt durch den Globus: Hieronymus Bosch malte die irdische Welt als kreisrundes Theatrum mundi in der atmosphärischen Hülle der Kugel. Kosmische Visionäre im Mittelalter ordneten die Welt in der göttlichen Mandorla des Kreises. Unser Wissen, daß die Partikel des Alls gleichförmig vom Ort des Urknalls mit Lichtgeschwindigkeit hinwegrasen, findet im Bild der Kugel ihr Modell.

Im Rahmen seiner Großprojekte nehmen die Zeichnungen von Bugrov bedeutendes Gewicht ein. Sie greifen über die Anschauung hinaus, interpretieren den Ort des Kunstwerks als Welt, als Solarplexus in der Beziehung des Menschen zu seinen Räumen. Diese zeichnerische Imagination, die sich durch Wasserfarben, Kreide, Graphitstift und Radiergummi auf saugendem Papier niederschlägt, ist dem Künstler so wichtig wie das Objekt selbst. Auch Christo begleitet seine ephemeren Großprojekte in der Landschaft mit prospektiven wie retrospektiven Zeichnungen. Er bringt sie der Fotografie nahe, um eine möglichst exakte Vorstellung zu geben. Andere Künstler von Landschafts- oder Stadtprojekten siedeln ihre zeichnerische Arbeit im technischen Entwurf. Man findet statische Erwägungen und Notizen. Von beiden, von der fotografischen Spekulation wie von der technischen Kalkulation, sind Bugrovs Bilder gleichwohl entfernt. Gerade der in den Bildern ausgedrückte Denkprozeß, eigenständig von der Verkörperung der Idee im Objekt, macht den hohen Reiz von Bugrovs Zeichnungen aus. In ihnen manifestieren sich verschiedene Vorstellungen vom Kunstwerk, seine philosophischen Dimensionen: die Beziehungen, die es mit den Erkenntnisformen des Menschen vom Universum aufnimmt.

Für kunsthistorische Vergleiche bietet der Spiegel die willkommenste Spur. Heinz Mack hinterließ dem Neuenkirchener Kunstverein 1972 zwei stehende Spiegel vor der Haustür als Abglanz seines „Sahara Projekts“. Diese Stadt aus Licht — Spiegel und reflektierende Materialien in der Wüste — sollte die in den sechziger Jahren kühnste Realisierung einer der Entmaterialisierung zustrebenden plastischen Form bieten. In Fragmenten verwirklicht, konnte Mack nur dessen eine oder andere mögliche Ansicht im Foto transportieren. Andere Spiegelobjekte, von Viktor Bonato oder Michelangelo Pistoletto beispielsweise, gewölbte Spiegel beim einen, ein einmeterzwanzig messender Spiegel-„Brunnen“ beim anderen, vermitteln nurmehr eine Erlebnisfolie: Vor dem vom Jahrmarkt oder aus dem Alltag bekannten Spiegel tritt der Betrachter seinem Zerrbild oder sich selbst gegenüber. Ein praktischer Impuls ist in diesen Objekten spürbar, Hoffnung der Künstler bleibt, daß der Betrachter dabei Erkenntnis gewönne.

Vom Erlebnis solcher Spiegel zu Bugrovs „Himmel und Erde“ ist indessen ein Schritt getan, der die siebziger und achtziger Jahre überbrückt hat. Eher die im Jahrzehnt der Monderoberung hochfliegenden Phantasien der ZERO Künstler, zu denen Mack gehörte, und Yves Kleins Levitationssehnsüchte haben in Bugrovs Licht- und Spiegelarbeiten Nachfolger gefunden. Als Stifter von Raumerfahrungen stehen sie den Prinzipien der Land-art nahe, den Arbeiten von Walter De Maria oder Michael Heizer aus den späten sechziger Jahren. Wo aber Einschnitte in ein Felsmassiv (Heizer) oder immense Wüstenzeichnungen (De Maria) Edmund Burkes Begriff des Erhabenen fühlbar machen, wonach Größe und Ürsprünglichkeit der Natur den Menschen im Wissen seines eigenen Maßstabs verunsicherten, und die Erfahrung des Kunstwerks dieses Gefühl überwindlich erscheinen läßt, führte Bugrov diese Emotionsqualität mit seinen urbanen Installationen in den systematisierten Raum der Stadt zurück. Das „Neonrevier in der Alster“, 1986, und das „Lichtfeld auf der Straße des 17. Juni“, 1989, waren Werke von sublimer Strenge und zugleich schönem Schein: nicht naturhaft, sondern technisch, in ihrer Technizität nicht objekthaftes, fremdes Gegenüber, sondern durch Aneignung der Technik souveräne, soziale Subjektäußerung.

Seit dem „Neonbett“, 1983/84, arbeitet Valerij Bugrov mit künstlich technischen Alltagsstoffen. Durch die Materialien, durch deren sozialen und geistesgeschichtlichen Konnotationen, wird das Kunstwerk zur Schleuse, die in einen scheinhaft erweiterten Raum vorstoßen läßt. Die Umwertung der Technik ist bei Bugrov Programm, denn sie ist allgemein verfügbar, nicht dem Individuum äußerlich, Mittel und nicht Ziel der Entwicklung des Homo sapiens. Kein Profit läßt sich aus der Technik im Kunstwerk ziehen, kein Nutzen leitet sich von ihr ab. Die dünnen Neonrohren an den Stahlmasten des „Neonreviers“ ließen die technische Gestalt im ausufernden Lichtschein verdampfen. Die skulpturale Silhouette der Stangen verschwand im dümpelnden Rotlicht auf dem Wasser. Von einem „Fata-Morgana-Effekt“ sprach Bugrov damals und fixierte die geschaffene Erlebnisform des leuchtenden Stabsystems in ihrem sozialen Raum. Dieser war beim „Neonrevier“ die Alster in Hamburg als Ort von urbaner Identifikation und beim „Lichtfeld“ in Berlin die Meile zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor als Terrain weltpolitischer Orientierung. Wenn die „Neonbetten“ die Auslotung ihrer kulturhistorischen Vorgänger nahelegten, so ließ schon das „Neonrevier“ erkennen, wie wenig Bugrov seine Arbeiten metaphorisch verstanden wissen will. Bald suchte er, über das Bett hinauszukommen, das den Auslöser zu Bildassoziationen gab, entkleidete das Neonsystem vom Objektträger und wechselte zu anderen Werkstoffen über: Gemeinsam mit Eldo Hell konzipierte Bugrov 1989 den „Fallenden Himmel“ für Paris, eine Neonlinie im Zentrum des Grand Palais im Sturz auf eine waagerecht liegende Videowand. War beim „Neonrevier“ der Reflektor das Wasser, bildeten hier Bilder der Raumfahrt den Resonanzboden. Auch eine feste Installation in Hamburg-Harburg, 1990 fertiggestellt, erzeugt ein Spannungsfeld zwischen Reflexionsleinwand, Atmosphäre und gebauter Architektur durch Technik: Die Spiegelwand ritzt ein dreieckiges Loch in den Himmel, um wieder Himmel in sich aufzunehmen. Bei anderem Standpunkt reflektiert die 40 Meter lange Splitterfläche ein Postgebäude am Neuländer Platz und jenen „Neonpfeil“, den Bugrov 1988 bei der Ausstellung „Kunststück Farbe“ in Berlin vorstellte. Bei allen Projekten dient das technische Material als figuraler Kraftstoff. Auch das „Neonbett“ gibt sich rückblickend als metaphysisches Objekt zu erkennen, von dem sich die durch das Licht angespornte Imagination über das Sozialmodell hinausschwingt, den Raum zu erobern, den das Neonlicht schon geöffnet hat.

Der Neuenkirchener Spiegel schließlich verwandelt sich der Natur an, wird Element eines globalen Organismus. Flach im Boden, gehört er der Erde. Über sich die Luft, spiegelt er sie ins Erdreich. Im Spiegel liquidiert der Stoff seine eigene Masse, indem auch er Licht bindet. Was hier das natürliche Licht, Voraussetzung unserer Orientierung auf der Erde, durch den Spiegel uns sehen macht, ist nichts weniger als Vision. Die unmittelbare Anschaulichkeit von Raum und Zeit, Größe und deren funktionalen Hierarchien im Spiegel wird durch ihn im selben Moment auf den Kopf gestellt. Der Verlust der Gewißheit wendet sich zum Gewinn. Aus Himmel und Erde werden Himmel und Himmel, das Kunstwerk verschwindet. In diesem Spiegel etwas anderem als Narziß in die Augen zu schauen, ist das Versprechen.

Peter Könitz & Karl Ciesluk – Wege (1980/2003)

Peter Könitz, geb. 1942 in Mühlheim/Ruhr, lebt bei Hamburg.
Karl Ciesluk, geb. 1952 in Ottawa/CDN, lebt in Ottawa/CDN.

Könitz führt den Betrachter auf einer Trasse aus unregelmäßigen Holzbohlen und parallel zur Straße ausgerichteten Stahlträgern durch das Unterholz. Aus dem Kontrast von geometrischer Form und organischem Verlauf entsteht eine plastisch-räumliche Situation des Durchdringens und Unterlaufens.

Auf der anderen Straßenseite setzt Karl Ciesluk die Bewegungsrichtung mit seinen Findling fort. Als Verweis auf die gewaltigen Kräfte, die in der Eiszeit diese Landschaft geformt haben, scheint der Stein sich wie in einem Zeitraffer den Weg durch den Waldboden gebahnt zu haben.

Katalog: Arel, Boudre, Ciesluk, Duckwitz, Könitz, Wege. Texte: J. Morschel u. d. Künstler, 1980, 80 S. € 6 / Mitgl. € 5

Text von J. Morschel

Jean Clareboudt – Windberg (1981)

Jean Clareboudt, geb. 1944 in Lyon/Frankreich, gest. 1997

»Windberg« lautet seit jeher der Name der nur 90 Meter hohen Endmoräne zwischen den Dörfern Ilhorn und Sprengel. In der flachen Gegend bot sich hier ein weiter Ausblick in die Landschaft.
Jean Clareboudt besetzt diesen Platz an seiner höchsten Stelle mit einem kreisförmigen Areal aus Findlingen. In der Mitte wurde eine gewaltige Ringscheibe aus rostigem Stahl leicht schräg auf drei übermannsgroße Findlinge aufgesetzt. Formensprache und Materialität der Installation lassen an ein Observatorium, Schutzschild, Opfertisch oder Kultplatz denken.

Diese Anhöhe ist für den Künstler einer jener Orte, »deren Topografie eine Herausforderung jenseits jeglicher nützlicher Aktivität bedeuten und die daher häufig spielerische und spirituelle Sehnsüchte in sich bergen und extrem damit belastet sind.«

Trotz seiner Monumentalität wirkt das Objekt nicht als Fremdkörper, sondern bietet Resonanz für Aspekte des exponierten Standorts. Farbe und Wirkung von Stein und Metall verändern sich unter dem Einfluß von Tages- und Jahreszeiten. Klettert man über die Findlinge hinweg, gelangt man zu einem höhlenartigen Raum unter der Ringscheibe. Licht fällt durch die Öffnung. Auf das Metall prasseln Regen und Hagel; der Wind pfeift darüber hinweg.

Katalog: Jean Clareboudt, Windberg. Texte: P. M. Bode, G. G. Lemaire, J. Clareboudt, 1981, 40 S. € 6 / Mitgl. € 5

Text von P. M. Bode