Text zum Symposion: Material aus der Landschaft – Kunst in die Landschaft

Jahr 1977
Titel Material aus der Landschaft – Kunst in die Landschaft
Künstler Victoria Bell / HAWOLI / Hans-Joachim Kempel / Leo Kornbrust / Jan Meyer-Rogge / Christiane Möbus / Karina Raeck / Janet Reichhold / Werner Reichhold / Gary Rieveschl / Manfred Saul / Rainer Selg / Rainer Tappeser / Timm Ulrichs / Hannsjörg Voth
Autor Jürgen Weichardt

I

Im Augenblick, als die Kultur den höchsten Grad der Geziertheit und damit den weitesten Abstand zur Natur erreicht hatte — im Rokokko –, deutete Goethe in einem Sonett (»Natur und Kunst«) die Wende und zukünftige Entwicklung der Kultur an — in Richtung auf die Natur. Darunter ist freilich zu verschiedenen Zeiten Differentes verstanden worden: Rousseaus früheres »Zurück zur Natur« meinte Lebensbedingungen und Erziehungsformen; der Realismus des 19. Jhd. zielte auf das Sichtbarmachen des Geistigen in der immer noch künstlerisch erfaßten äußerlichen Natur; der Naturalismus bemühte sich um eine adäquate Darstellung der Natur und primär ihrer humanen Schattenseiten; der Impressionismus verstand sich als Krönung des Realismus, weil er die Erscheinungen der äußeren Natur und des Menschen in einem Augenblick zu konzentrieren suchte.

II

Die Stilrichtungen des 20. Jahrhundert haben bis in die sechziger Jahre aus manchen — hier nicht zu erörternden — Gründen wenig zu diesem Problem beigetragen, obwohl oder weil es staatlich verordnete »Zurück zur Natur«-Bewegungen gegeben hat. (Jugendbewegung, Eigenheim-Mode, Gartenbau-Ausstellungen). Die grundlegenden Ansätze für die in den letzten Ausstellungen der Galerie Falazik deutlich gewordenen Beziehungen von Kunst und Natur sind in der land art — concept art zu sehen, in den in die neue Landschaftskunst eingeflossenen Umweltschutz — Naturschutz — Ideen und vor allem in der aus der »objet-trouvé-Tradition« entwickelten neuen Bewußtheit gegenüber dem Wert aus der Natur unmittelbar stammender Formen für artifizielle Aussagen. Dabei ist im Nachherein eine deutliche Abfolge zu erkennen: In der »Kunst — Dorf«-Ausstellung ging es im wesentlichen um die Konfrontation der Einwohner der Gemeinde mit aktuellen Kunstformen; im deutsch-französischen Symposion wurden Erscheinungen des Lebens in der Gemeinde und ihrer Umgebung erneut mit Hilfe der damals aktuellsten Mittel der Kunst, den Medien, aufgespürt und sichtbar gemacht. In Ansätzen tauchten dabei individuelle Sichtweisen auf, die in der letzten Ausstellung — »Plätze der Macht« dann im Zentrum standen. In der Wahl der Mittel wurde damals ein ganz klarer Schnitt vollzogen: Nun dominierten die Werke mit Materialien der Natur, freilich eingebunden in eine mythologische Gespanntheit, die von außen, vom Rezipienten nur schwer aufzuschlüsseln war.

III

In diesem Jahr stehen die Materialien der Landschaft und des bäuerlichen Lebens noch stärker, praktisch uneingeschränkt im Mittelpunkt der künstlerischen Praxis. Ziel war, Werke zu schaffen, die materialbedingt zwar nicht zeitlich dauerhaft, dafür in kurzer Zeit aber konzentriert die Gegebenheiten der Landschaft vielfältig aufnehmen, spiegeln und den artifiziellen Konzeptionen entsprechend realisieren sollten. Nur bedingt konnten Vorstellungen, die von der Landschaft unabhängig gefaßt worden waren, konkretisiert werden. Die speziellen Anforderungen dieser Landschaft und des bäuerlichen alltäglichen Ästhetikbedürfnisses waren Konkurrenzphänomene, die erst vor Ort erfahren und eingeschätzt werden konnten. Diese Kenntnis hat den Teilnehmern des Symposions und der Ausstellung auch bewußt gemacht, daß es längst Beziehungen zwischen den Einwohnern und ihrem Land gegeben hat.

IV

Die Ergebnisse des Symposions lassen sich in sechs Gruppen einteilen, die sich ganz vordergründig nach dem Material ergeben haben: Holz, Sand, Tuch, Gerät, Lifeforms, anderes.
Davon ist die Gruppe der Holzarbeiten die größte; über die Bedeutung dieses Materials für die Landschaft ist nicht zu reden; zu ihr gehören die Arbeiten von Bell, HAWOLI, Meyer-Rogge, Selg und Tappeser. Es spricht für die Qualität der Veranstaltung, daß keines der Beispiele mit einem anderen über diese Materialbeschaffenheit hinaus vergleichbar ist. Jede Lösung steht für sich allein.

V

Victoria Bell fügt grob bearbeitete Holzstämme von Gewicht und Volumen zusammen und entwickelt dabei architektonische Baukörper — Gehäuse, Mühlen, die über den rein assoziativen Reiz hinaus durchaus die Beziehung zu einem realen Baukörper erkennen lassen. Die Stämme werden nicht nur aneinandergelehnt, sondern auch ineinander verschränkt. So entstehen feste bauliche Gefüge mit deutlicher Basis und nachvollziehbarer Tektonik. V. Bell spielt auf die Schlichtheit des ursprünglichen Bauens an; ihre nur wenig geglätteten Baumschäfte unterstreichen diesen Zug der Naturbezogenheit. Es liegt nicht fern, hier eine Anspielung auf das Unbehaustsein des Menschen zu sehen; doch weist V. Bell mit ihren raumumspannenden, volumenumfassenden, exakt geschichteten Bauwerken auf die einfachsten Möglichkeiten des Behaustseins hin: Natur und Kunst können gleichermaßen dem Menschen Halt geben. Die Anspielung geht über das einzelne Werk hinaus ins Grundsätzliche.

Vl

HAWOLI biegt Bäume und gibt vor, sie so in der Natur gefunden zu haben. In einem handwerklichen und äußerst langwierigen Prozeß werden die Baumstämme einer Veränderung unterworfen und die Folgen dann verdeckt. Die herbeigeführte Situation des Holzes wird einer Wegbiegung angepaßt, so daß Parallelen entstehen. Im Kern geht es HAWOLI um die Frage: Was ist Wirklichkeit? Der in vielen seiner Arbeiten eingebaute Überrasschungseffekt ist hier möglichst klein gehalten; das scheinbar Unauffällige soll die höchst mögliche Annäherung an Formen ländlich-forstlicher Wirklichkeit erreichen und erst bei näherem Hinsehen als Kunstprodukt aufgedeckt werden. Ein Beitrag, der — weil er nicht ortsgebunden ist — überall auftauchen kann und in jedem Fall dazu auffordert, genau hinzusehen: Die ausgelöste Identitätsproblematik besagt, daß auch die angeblich simple Realität ihre komplizierten Erscheinungsformen besitzt.

VII

Ablauf und Reihungen in verschiedenen Materialien, zuletzt auch in Holz, sind die Grundthemen von Jan Meyer-Rogge bisher gewesen. Sein großes Birkenobjekt enthält diese formalen Probleme, ist darüber hinaus aber auch Kanon-Erweiterung für den Künstler. Aufgebaut auf einer dreieckigen weiten Landfläche besteht dieses Objekt aus einer berechneten Zahl von dreiseitigen Pyramiden, die sich — so ist auch der Bauprozeß verlaufen — am Ende zu einer drei- und gleichseitigen, mehreren Etagen hohen Pyramide zusammenschließen. Was als starres stereometrisches Motiv geplant worden ist, erweist sich nach der Realisierung als abwechslungsreiches, lebendiges Zeichen, das seine Bewegungen aus der Unregelmäßigkeit der Birkenstämme gewinnt, zuletzt aber auch von einem von der Spitze nach innen hängenden leicht pendelnden Baumstamm, der die Struktur zu stören hat. Darüber hinaus verlangt das Objekt ein Zeichen, das sich gegen die Landschaft, vor allem gegen die verschiedenen Horizont-Linien behauptet, nach dem Umgehen, denn nur in diesem Vorgang öffnet es seine ganze Vielgliederigkeit. Ein überzeugendes Beispiel der Symbiose von Konstruktion, einsehbar gemacht, und Natur.

VIII

Assemblagen sind die figurativen Objekte von Rainer Selg. Sie sind zusammengesetzt und montiert aus verschiedenen, am Ort gefundenen Stücken, ausgewählt nach dem Gesichtspunkt, ob ihre zumeist zwar bearbeitete, präfabrizierte Form zu einer figurativen Komposition beitragen kann. Entstanden sind auf diese Weise wuchtige, aufragende Gestalten, die Kraft und Konsistenz aus der Konstellation ihrer einzelnen Elemente gewinnen. Dazu kommt ein differenzierter Farbreiz, der von den verschiedenen Materialien — nicht nur Holzformen, sondern auch rostigen Eisen — herrührt. Am stärksten werden diese Arbeiten von der Ambivalenz bestimmt, die zwischen dem Wiedererkennen einzelner Bauelemente und der mehrdeutigen Gesamtkomposition und ihrer funktionalen Details besteht. Diese Spannung, die auch die Frage nach dem Produktionsprozeß miteinschließt, findet in den verschiedenen Figurationen eine immer abgewandelte Wahrung.

IX

Scheinbar im Kontrast zur Natur stehen die Objekte von Rainer Tappeser. In einem Fall begegnet er wallartig zusammengeschobenen Wurzelstöcken — bleibendes und landschaftsbestimmendes Mal der Sturmkatastrophe von 1972 — mit einer Figur aus vier Balken, dem Inneren von Baumstämmen also, das normalerweise in der Natur ebenso nicht sichtbar ist wie die Wurzeln; daß die an dieser Stelle unter zweckdienlichen Gesichtspunkten sinnlosen »Balken« auch noch mit rötlichen Holzschutzmittel behandelt sind, weist zusätzlich auf das Paradoxe der Situation hin und setzt dem Grün der lebenden Vegetation eine komplementäre Erscheinung entgegen. Die zweite Arbeit zeigt eine lockere Struktur von senkrecht im Wasser stehenden Hölzern, kurzen Stücken von Baumstämmen, die zu den vier Himmelsrichtungen leicht besäumt sind und auf diesen Schnittflächen vier Farben tragen. Der Hell-Dunkel-Ablauf auf Baumstämmen in der Natur wird farbig ausgelegt und führt zur Andeutung eines »Farbwaldes«, dessen Künstlichkeit durch den Standort im Wasser unterstrichen wird. So hat Tappeser mit den Mitteln der Natur Gegensätze zur Natur erzielt. Der zerstörte Wald bietet den gedanklichen Hintergrund für diese Plastik.

X

Manfred Saul kombiniert Sand und Holzkisten. Durch die Öffnung von Holzkisten, die aus dem Transport und dem Verpackungsbetrieb entnommen sind, entsteht imaginärer Raum, der bestimmt ist durch den jeweiligen Öffnungswinkel zwischen Kistendeckel und Kiste. Saul konkretisiert die festen Räume, er füllt sie mit Sand auf, wobei der naturgemäß amorphe Sand in die sich öffnenden, geometrisch streng begrenzten Räume hineinwächst oder herausdringt. Hierdurch entsteht scheinbar ein Widerspruch: Inhalt wird Form, Form wird Inhalt. M. Saul versteht seine Arbeit nicht nur als Raum-Formproblem, sondern als die Darstellung sinnlicher Differenzen, die dadurch entstehen, daß Materialien von widersprüchlicher Konsistenz in Verbindung gebracht werden. Die Heidelandschaft ist in hohem Maße durch Holz (Wald) und Sand bestimmt. Zu dieser Landschaft und Natur tritt die Spannung von fester und beweglicher Form, von Hart und Weich, von Innen und Außen, von materialbedingten Aspekten, zu denen die räumliche Akzentuierung in der Landschaft selbst — etwa durch den Übergang der Kunstform in die Naturform hinzukommt.

XI

Das Gerät, das der Bauer benutzt hat, seine Arbeit zu tun, das dann durch Zeit und Widerstand der Natur zerstört worden ist, wird zum Material für Werner Reichhold. Hauptelement ist dabei ein Bohrinstrument — Hinweis auf die Notwendigkeit des Wassers für diesen trockenen Landstrich und für die erfolgreiche landwirtschaftliche Arbeit überhaupt –; ihm sind andere Geräteteile so zugeordnet worden, daß scheinbar ein neues entstanden ist. Zu dieser Assemblage gehört auch die Plazierung auf hartem Stein, der den erfolgreichen Widerstand darstellt. Natürlich dient Werner Reichholds Objekt der Aufgabe, Arbeit, Werkzeug und Schwierigkeiten bäuerlichen Lebens bewußt zu machen. Und gerade seinem »Gerät« stehen die bäuerlichen in ihrer konfektionellen Modernität antiästhetisch gegenüber. Darum das Zeichenhafte, das auch in diesem Falle über sich hinausweist und auf eine Komplexität anspielt, die sowohl bäuerliches Formgefühl wie ländliches Tagwerk und seine widerstrebenden Schwierigkeiten umfaßt.

XII

Die Assoziation einer Hängebrücke geht von der Arbeit Janet Reichholds aus, deren Material aus Holzbrettern, Tauen, einem Heidschnuckenfell besteht und das zwischen mehrere Meter voneinander entfernten Bäumen gespannt ist. Die funktionale Beziehung, die manche anderen Arbeiten bestimmt, tritt hier zu Gunsten des Ungewöhnlichen und Überraschenden zurück. Die natürlichen beziehungsweise bäuerlichen Materialien sind völlig aus ihrem Zusammenhang gelöst worden und ergeben eine eigene, sich im Winde leicht bewegende Komposition, die zudem einen spezifischen Reiz auch aus dem wandernden Licht der Sonne empfängt. Zum Charakter dieser Arbeit zählt ihre fast unauffällige und zugleich doch spannungsvolle Einfügung in ein Naturensemble, zu dem nicht nur die beiden tragenden Bäume, sondern auch das weitere Umfeld mit Bauernhaus und Teich zählen. So entstehen auch hier Kontraste zwischen Gebautem und Gewachsenem, wobei im Grunde dem letzten der erste Platz eingeräumt wird.

XIII

Schließlich wird das Gewachsene selbst Inhalt einzelner Werke, die Gary Rieveschl mit dem Kennwort »Lifeforms« bezeichnet hat. Dieser Begriff darf — mit Einschränkung — auch auf die Arbeit von Karina Raeck übertragen werden. Lifeforms — das ist Umgang und Einsatz von Lebendem, zum Beispiel Pflanzen. Sie sind integraler Bestandteil der aus dem Bereich des Objekthaften herausgewachsenen land-art-Environment, zu denen der größere Raum der Ödlandlichtung beziehungsweise des Laubwaldes unabdingbar gehört.

In Karina Raecks Buchenwaldraum wurde eine vom letzten Sturm ausgehobene Flachwurzel aufgebaut, die von einem mit Moos-, Gras- und Unkrautsoden bepflanzten Innenraum und Wall umgeben ist. Hier verbinden sich mehrere Motive: das der Veränderung von Wachstum, das der Pflege für das Wachstum, das des beherbergenden Aufenthalts, das der Zeit als Längsschnitt der Veränderung, das der Meditation. Sie stehen über allen visuell-ästhetischen Reizen, die allein schon ausreichen würden, die Vielfalt dieser Arbeit aufzuzeigen. Aber die genannten Motive im Hintergrund erweitern diesen Reiz, so daß Karina Raecks Raum ein Ort der Konzentration, der Kraft und der Besinnung wird, nicht zuletzt über die Fähigkeit des Künstlers gegenüber der scheinbar unsterblichen Natur.

XIV

Gary Rieveschl prägt Landschaft. Seine land-art-Komposition ist so groß, daß ihre Beziehung zur ursprünglichen Landschaft nur aus der Vogelperspektive oder in der Vorstellung vollständig erfaßt werden kann. Der Rezipient erfährt einen langen spiralförmigen Erdwall, der mit Grassoden und jungen Birken bewachsen ist und sich auf diese Weise der Natur wieder anpaßt, aus der er durch seine eher archäologische als natürliche Form herausgetreten ist. Auch hier wird ein Ort der Stille und Meditation aufgebaut. zur Arbeit von Rieveschl

XV

Zu den charakteristischen Elementen der Lüneburger Heide gehören die Steine, die hier eine ganz andere Wertigkeit haben als die Felsen in den Alpen, eben weil sie in isolierter Form größere Ausstrahlungskraft besitzen und zugleich Urgeschichte und damit Zeit in Erinnerung bringen. Mögen die Künstler, die den Stein in die Mitte ihrer Arbeit gestellt haben, auch diese norddeutsche Stein-Dimension nicht bewußt eingesetzt haben — sie bleibt unabdingbarer Bestandteil.
Für Leo Kornbrust sind Steine Material zur Formung eines Platzes, der wegen seiner Lage zwischen Bäumen und Gedenkstätte bisher keine Beachtung gefunden hat. Das Unauffällige zu akzentuieren, ist eine Grundtendenz der Arbeit von Kornbrust. Dabei folgt er der vorgegebenen Form dieses Platzes — im Neuenkirchener Fall — einem spitzen Dreieck. Diese Fläche wird mit Steinen ausgelegt, wobei eben die vorgegebene Form erhalten bleiben soll. Aber auch die Steine werden von Kornbrust nicht bearbeitet; sie behalten ihre ursprüngliche oder vor langer Zeit geschaffene Form, wobei der Autor natürlich eine solche Auswahl trifft, daß die Steine zueinander passen. Vor allem soll die Oberfläche der entstehenden Steinkomposition eben sein oder nur ganz deutliche Akzente tragen, die gesehen und gefühlt — empfunden werden können. zur Arbeit von Kornbrust

XVI

Timm Ulrichs hat einen Steinkreis aufgehäuft, den er »egozentrisch« nennt: Von der Mitte eines Platzes aus hat er die aus der Umgebung des Ortes zusammengelesenen Steine unterschiedlicher Größe nach außen geworfen, jeweils mit ganzem Körpereinsatz. Die Position der Steine resultiert also aus ihrem eigenen Gewicht und der Kraft der Würfe. Zu Mitte des Steinwalls hin konzentrieren sich demnach die schweren Steine, außen liegen die kleinen, die fast unmerklich die Arbeit in die umgebende Landschaft übergehen lassen sollen. Zur Mitte des Platzes führt ein Zugang von der Breite der Körperlänge des Künstlers, wie auch das steinfreie Platzzentrum von der Körpergröße Timm Ulrichs bestimmt ist. »Man mag diese Arbeit sehen als persönliche >Landnahme< ebenso aber als >Ort der Kraft< im Sinne der letztjährige Sommerausstellung.« zur Arbeit von Ulrichs

XVII

Hannsjörg Voths Titel »Steine leben ewig« ist weniger optimistisch, als er klingt. Unüberhörbar ist die Anspielung auf die Zerstörung seiner Pfahlstätte im letzten Sommer. Voth braucht für seine Kompositionen Orte, die bereits für sich eine Ausstrahlung besitzen — freie Gipfelräume, weite offene Felder –; so hat er das kleine Plateau »Windberg«, das als eine der schönsten Stellen in der Lüneburger Heide gilt, für seine Arbeit ausgewählt. Diese besteht aus einem großen Tuch und darauf gelagert einem vier Tonnen schweren Stein, der schon an anderer Stelle auf dem Windberg lag. Das 400 qm große Tuch, das den Erdboden mit allen seinen Bewegungen einebnet, ist an seinen Rändern eingegraben worden — ein Formmotiv, das Voth in Parallele zu seinen »Verschnürungen« sieht. Der Stein ist zentral auf dieses weiße Tuch plaziert worden. Seine Größe, Schwere und sein Volumen gewinnen an Gewicht durch die Isolierung; und es entsteht eine Spannung zwischen Fläche, Form und Raum, der die Landschaft mit einschließt. Aus dieser Konstellation eben gewinnen die Kompositionen von Hannsjörg Voth jene Intensität, die aus der Realität die Objekte ins Magische hinüberhebt.

XVIII

Integration und äußerste Reduktion von differenten Erscheinungsweisen in der Natur sind die Kerngedanken der Arbeiten, die Christiane Möbus für die Ausstellung geschaffen hat. Ihre Materialien sind ein Findling und Ort in der Landschaft, der ohne jeden Aufwand äußerste Stille, strengste Ruhe besitzt. Findling und Ort können zueinander gebracht werden. Dann wird der Stein als Zeichen der Beständigkeit, aber auch der Besonderheit an diesem stillen Platz behauen. Eine Linie fährt — faktisch wie auch nur konzeptionell — um ihn herum und durch die landschaftliche Form, in der er ruht. Diese Linie schafft die Verbindung der differenten Bereiche, sie führt die Integration herbei. Auch die Arbeit in der Galerie-Ausstellung enthält diese Kombination von Linie und Stein, auch hier verbindet die über eine Wand und einen Sockel auf einen Stein zustrebende Linie die Elemente der Komposition und deutet die größere Einheit an, auf die Christiane Möbus anspielt: Die dialektische Einheit aller Gegensätze in der Natur. zur Arbeit von Möbus

XIX

Hans-Joachim Kempel geht von einer anderen Einheitsvorstellung aus: Von der Undifferenziertheit, mit der Menschen die Natur betrachten. Zwei, in ihrer Konsistenz unterschiedliche Elemente werden ausgewählt: Ein Baum und ein Stein, beide werden mit einem Seil verbunden. Dieses stellt im wahrsten Sinne des Wortes eine Spannung zwischen beiden Formen her; es wird so angezogen, daß der Baum im Wipfel leicht geneigt ist. Für dieses Seil verwendet H. J. Kempel auch ein natürliches, kein synthetisches Material: Hanf. Dieses gespannte Seil schafft eine Fülle von Beziehungen: Es teilt den Raum, es verbindet Stein und Baum, aber es trennt links und rechts. Es macht die Höhe des Baumes bewußt, dann wenn der Blick dem Seil aus verschiedenen Perspektiven folgt. Es verdeutlicht Kraftverhältnisse: die Kraft des Steins, der das Seil gespannt hält; die des Baumes, der sich gegen diese Spannung, die ihn zwingt, zur Wehr setzt. Schließlich entsteht im Bewußtsein des Künstlers und des Betrachters rund um Stein und Baum ein separater Raum, in den alle diese Beziehungen ausstrahlen. Nicht nur visuell, sondern auch von der intellektuellen Aufschlüsselung der verschiedenen Relationen erfährt ein bis dahin wenig erscheinender Naturraum eine Mensch und Natur umfassende Akzentuierung und Bestimmung.

XX

Schlußwort: Die in der Landschaft rund um Neuenkirchen aufgestellten Arbeiten sind nicht nur in ihrer visuellen und assoziativen Erscheinung zu sehen, sondern auch als Ergebnisse eines Arbeitsprozesses. Diesem ging eine lange Denkphase voraus, in der es um die bestmögliche Konzeption der thematisch von der Galerie gestellten Aufgabe »Material aus der Landschaft — Kunst in die Landschaft« ging. Es ist kein Geheimnis, daß zu dieser Konzeption auch der soziale Aspekt der finanziellen Machbarkeit für eine private Galerie gehört. Zweiter Teil des in die Arbeit einzubeziehenden Prozesses ist die Arbeit selbst, die Tätigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg, die von der Bevölkerung beobachtet werden konnte. Hier war Einblick in die Struktur künstlerischer Arbeit möglich. Daß diese rein visuell und kräftemäßig nicht so sehr verschieden ist von der Arbeit auf dem Lande, hat den Künstlern allgemein Sympathie verschafft. Kurz: Künstlerische Arbeit ist hier normale Arbeit als Realisierungsprozeß eines phantasiereichen, sowohl Intellekt wie Emotion umfassenden einmaligen Gedankens.

Gabriela Albergaría – D28 (2015)

Mit einer behutsam in die Landschaft eingefügten Bodeninstallation macht Gabriela Albergaria die Spuren, der mit großem maschinellem Aufwand durchgeführten Aufforstungen der Lüneburger Heide sichtbar.

Der lapidare Titel der Skulptur, „D28“ entspricht der Bezeichnung der Lüneburger Heide in der vom Bundesamt für Naturschutz herausgegebenen Liste naturräumlicher Einheiten.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts befanden sich an dieser Stelle baumlose Heideflächen, eine Folge der jahrhundertelangen Überweidung der kargen Sandböden. Erst als man im Zuge der Industrialisierung über die technischen Möglichkeiten verfügte, mit gewaltigen Dampfpflügen den so genannten „Ortstein“, eine wasserundurchlässige Bodenschicht, aufzubrechen, konnten Kiefern auf dem kargen Boden gedeihen.

Die gleichmäßig verlaufenden Bodenwellen, über die sich die Installation erstreckt, sind die noch immer sichtbaren Furchen dieser Dampfpflüge. Auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Wanderweges ist das Bodenprofil deutlich unregelmäßiger. Hier hatten sich durch die starke Winderosion, Sanddünen gebildet, welche an vielen Stellen in der Lüneburger Heide die Existenz ganzer Ortschaften bedrohen konnten.

Der rote Backstein für den sich die Künstlerin entschieden hat, ist ein typischer Baustoff dieser Region sowohl für Gebäude als auch für Gehwege. Leicht erhaben, als überschaubarer Abschnitt und jeder Unregelmäßigkeit im Boden folgend, fixiert Gabriela Albergaria damit den momentanen Zustand des Waldbodens.

Gärten und Landschaften als kulturell geschaffenen, hierarchisierten, gezüchteten und geplanten Gebilden gilt das Interesse ihrer künstlerischen Praxis. Gabriela Albergaría richtet unser Augenmerk auf die Ambivalenz von Natürlichem und Künstlichem, auf das, was an der Natur künstlich geworden ist, bzw. was sich durch die Herrschaft des Menschen über die Natur entwickelt hat.

Die Außeninstallation D28 entstand als Teil einer Serie von Kunstprojekten des Europäischen Landschaftskunstnetzwerks ELAN, mit denen sich Künstlerinnen und Künstler im Springhornhof, im Yorkshire Sculpture Park (GB), dem Centre of Polish Sculpture in Oronsko (PL) und bei Arte Sella im Trentino (I) auf ökologische Bedingungen, Landschaftsgestaltung, Vegetation und Wachstumsprozesse des jeweiligen Ortes beziehen.

Gabriela Albergaria (*1965 Vale de Cambra, Portugal. Lebt in New York, USA) hat Kunst an der Universität in Porto studiert und war artist-in-residence am Künstlerhaus Bethanien, an der Cité International des Arts Paris und im Botanischen Garten der Oxford University. Seit 1990 hat sie an zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen teilgenommen. Ihre Projekte und Installationen waren unter anderem in Sao Paulo (Brasilien), der Villa Arson in Nizza, der Kunsthalle Emden, der Vancouver Art Gallery und der Biennale Montevideo zu sehen.

Michael Asher – 53° 16’N 9° 57’O 52° 55’N 9° 8’O (2003)

Michael Asher, geb. 1943 – gest. 2012, lebte in Los Angeles/USA.

Michael Asher beschäftigt sich mit dem Wasser-, Strom- und Gasversorgungsnetzwerk in und um Neuenkirchen. Das Set von technischen Plänen und Landkarten der entsprechenden Leitungs- und Verteilersysteme in abgestuften Maßstäben kann man im Springhornhof studieren oder als Schuber erwerben. Eine Broschüre erläutert alle fachspezifischen Zeichen und Symbole. Es geht um den Zugang zu Informationen, die Zirkulation von Energie und Netzwerke, die „unter“ der Oberfläche der Landschaft liegen.

Michael Asher gehörte zu den einflussreichsten Konzeptkünstlern in den USA. Mit „subtilen aber absichtlichen Interventionen – Ergänzungen, Änderungen oder Subtraktionen – insbesondere in und von Umgebungen“ untersuchte er Zusammenhänge von künstlerischer Bedeutung und musealem Kontext.

Katalog: OUTLOOK. Landschaftsbezogene Kunstprojekte in der Lüneburger Heide. Rupprecht Matthies, Peter Pommerer, Anna Gudjonsdottir, Michael Asher, Job Koelewijn, Stefan Kern, Dragset & Elmgreen. Text: von Raimar Stange, Ralf Christofori, Belinda Grace Gardner, Lorenzo Benedetti, Eva Linhart, Stefanie Sembill, Dirck Möllmann, Bettina v. Dziembowski, revolver- Archiv für aktuelle Kunst, 2005. 66 S. € 20 / Mitgl. 15

Asher nahm an der Documenta 5 und 7, der Biennale von Venedig (1976) und bei den Skulptur.Projekten in Münster 1977, 1987, 1997 und 2007 teil.  Er hatte wichtige Einzelausstellungen im Centre Pompidou in Paris (1991), im Los Angeles County Museum of Art (2003), im Art Institute of Chicago (2005) und im Santa Monica Museum of Art (2008). 2010 erhielt er den hoch dotierten Bucksbaum Award der Whitney Biennial.

Andreas Vowinckel – Text zum Symposion: Steinfelder

Jahr 1979
Titel Steinfelder
Künstler Rolf Jörres
Autor Andreas Vowinckel

I

Findlinge — dieses durch die Eiszeit aus Skandinavien verschobene und in der norddeutschen Tiefebene abgelagerte Granitgeröll, das in oft überlebensgroßen Exemplaren mit dieser Häufigkeit nur noch in der Lüneburger Heide anzutreffen ist — bilden das alleinige Material für die jüngste Arbeit von Rolf Jörres, die er »Steinfelder« nennt.

Sie sind in der Nähe von Neuenkirchen auf einer Ödlandfläche von circa 2500 qm aus zehn Gruppen unterschiedlich großer Steine in einer lockeren Anordnung, die keine Systematik erkennen läßt, aufgebaut. Die Steine wurden vom Künstler nicht überarbeitet. Ihre abgeschliffenen, gerundeten Volumen, ihre Risse, Brüche und offenliegenden kristallinen Strukturen, ihre vereinzelt eingetriebenen Markierungen zeigen vielmehr die Spuren der natürlichen Erosion oder von menschlichen Eingriffen, die die Geschichte von der Steinzeit bis in die Gegenwart auf ihnen als Baumaterial für Hünengräber, für Begrenzungswälle oder Gebäudefundamente hinterlassen hat.

Rolf Jörres hat diese in der Landschaft oder auf den umliegenden Bauernhöfen vorgefundenen Steine für seine Arbeit lediglich nach Gesichtspunkten ihrer Form und Größe, ihrer Masse und Struktur ausgewählt. Er hat sie einander zu Gruppen von zwei, drei oder mehreren Steinen zugeordnet. Sie bilden so mehrere in sich abgeschlossene plastische Einheiten. Zusammengesehen aber, eingebettet in die Landschaft des Ödlandes, eröffnen sie als eine begehbare »Plastik«, wie der Titel »Steinfelder« im Sinne des Wortes sagt — je nach dem Standort des Betrachters wechselnde formale und inhaltliche Beziehungen. Sie machen über die jeweils einzelne Steingruppe hinausweisende neue räumliche Zusammenhänge sichtbar und inhaltliche Deutungen möglich. Die künstlerische Handlung, das heißt der formale Eingriff, den Rolf Jörres in bezug auf die Steine wie auf die Landschaft vornimmt, bleibt dabei lediglich auf zwei Kriterien beschränkt: erstens auf die Auswahl und zweitens auf die Zuordnung der Objekte in einem vorgegebenen Landschaftsraum.

Die drei Steine, die beispielsweise zu einer »Säule« als einer in sich geschlossenen Gruppe übereinandergeschichtet sind, können im Sinne architektonischer Begriffe inhaltlich als stützende und lastende Elemente interpretiert werden. Dies legen die Formen und Strukturen der Steine ebenso wie ihre Größenverhältnisse zueinander nahe, durch die die Funktionen genau festgelegt sind. Während die zwei unteren, abgeflachten Steine horizontal gelagert sind und durch ihre diminuierende Abstufung nach oben als Sockel und Zwischenglied eine tragende Funktion ausüben, wird durch den darübergesetzten, überdimensional großen dritten »pyramidalen« Steinkörper nicht nur Gewicht und Masse, sondern auch das Lastende anschaulich.
In der Innenstruktur dieser Arbeit sind also bildnerisch gehandhabte Formen-, Volumen- und Raumbeziehungen feststellbar. In diese werden darüber hinaus Werte der Oberflächenstruktur ebenso miteinbezogen wie die malerisch-mitgestaltende Einwirkung von Licht und Schatten. Diese Elemente des Bildnerischen bestimmen die »Säule« als eine Plastik mit einem autonomen Form- und Ausdrucksgehalt. Sie kann damit auch an jedem anderen Ort aufgestellt, von der Landschaft unabhängig gedacht werden, ohne daß hiervon ihre inhaltliche Bedeutung berührt würde.
In jeder einzelnen der zehn Arbeiten, die zusammengesehen die »Steinfelder« bilden, hat Rolf Jörres analoge statische oder dynamische Situationen mit eigenem Bedeutungsgehalt geschaffen. Er hebt hierbei einerseits bildnerische Probleme der Volumen-, Raum- oder Beziehungen der Oberflächenstruktur hervor. Andererseits betont er, je nach der Art der Zuordnung, den individuellen Charakter und Ausdruck eines einzelnen Steines oder einer Gruppe. Es ist vor allem dieser zweite Gesichtspunkt, der als wichtiges Merkmal der »Steinfelder« in den meist horizontal in die Breite entfalteten Steingruppen deutlich in Erscheinung tritt und ihnen in ihrer Selbstdarstellung einen besonderen Reiz gibt.
Bezieht man die »Säule« oder jede andere als Einzelarbeit zu betrachtende Steingruppe in den Zusammenhang der übrigen mit ein, dann wird die formale Innenstruktur — die, wie gezeigt werden konnte, autonomen ästhetischen Kriterien unterworfen bleibt — in ihrer inhaltlichen Bedeutung relativiert. Die Arbeit gewinnt in ihrer Außenstruktur nun einen neuen, veränderten Stellenwert. Er ergibt sich einerseits aus dem Verhältnis der verschiedenen Steingruppen untereinander, das heißt aus der Spannung ihrer Volumenentfaltung und Massengliederung, sowie aus den so entwickelten Raumzusammenhängen. Er ergibt sich andererseits aber — und das ist hier der entscheidende Gesichtspunkt — aus der unsystematischen, beinahe zufälligen Einbettung der Steingruppen in die umgebende Landschaft beziehungsweise aus der wie selbstverständlich anmutenden Einbeziehung der Landschaft in den Entwurf der Arbeit, die weitreichende Konsequenzen nach sich zieht.
Die Steine, die in einer offenen Landschaft, die vielleicht vereinzelt Findlinge, kaum aber namhaft arrangierte Steingruppen aufweist, die solchermaßen verfremdet werden, wecken Assoziationen beim Betrachter und nehmen so neue, bisher ungewohnte Bedeutungen an. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird hierdurch nicht nur wieder auf die typische Gestalt und Struktur der einzelnen Findlinge gelenkt. Vielmehr tritt durch sie gleichzeitig auch ihr natürlicher Bezugsraum »Landschaft« mit in das Blickfeld. Die Steingruppen stellen somit eine veränderte Beziehung des Betrachters zum ländlichen Umraum her. Zwei Bedingungen liegen diesem Vorgang zugrunde: erstens der Verzicht des Künstlers, an den vorgefundenen Findlingen einen Eingriff vorzunehmen, der den ursprünglichen Zustand verändern würde; zweitens der Verzicht des Künstlers, die Steingruppen nach einem durchgreifenden, logisch begründeten und damit zwangsläufig abstrakten Konzept in dem Landschaftsraum anzuordnen. Es geht Rolf Jörres vielmehr darum, die Steingruppen offen und ohne ein festgelegtes System analog der unendlichen Vielfalt der Natur selbst, das heißt ihr gemäß, mit möglichst vielseitigen Aspekten anzulegen. Die vom Künstler hergestellten Zusammenhänge zwischen den Steinen wie auch zwischen den Steinen und der Landschaft werden durch die Reduktion der künstlerischen Handlung auf Auswahl und Zuordnung der Steine als künstlerische Kriterien definiert. Das Prinzip dieser Kunst besteht demnach in der Ambivalenz von Realität, das heißt einer Ambivalenz zwischen »Kunst« als einer subjektiven Realität und »Natur« als einer objektiven Realität. Es gehört zum Wesen dieser Ambivalenz, daß der Betrachter die Realität der vom Künstler vorgegebenen Beziehungen und Zusammenhänge für sich immer von neuem zu prüfen und zu entscheiden hat: »Kunst«, wie sie in den einzelnen verschiedenartigen Steingruppen und in ihren Zuordnungen als Ganzes inhaltlich faßbar wird, und »Natur«, wie diese durch die Auswahl der Steine und ihre Einbettung in die Landschaft bewußt, das heißt sichtbar gemacht zu werden vermag …

II

Rolf Jörres, 1933 in Essen geboren, kam über das Studium der Architektur seit 1954 in Graz und Wien zur Steinbildhauerei, der er sich seit Ende der fünfziger Jahre ausschließlich widmete. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, arbeitete der Künstler seit 1961, wieder nach Essen zurückgekehrt, konsequent an den bildnerischen Aufgaben, die sich ihm in der Auseinandersetzung mit dem Medium Stein in seinen verschiedensten Materialformen stellten, wie Muschelkalk, Basaltlava, Kalkstein, Main- oder Ruhrsandstein, Travertin, Granit oder Marmor. Steine, die als ein Konzentrat des biologischen und geologischen Kreislaufs der Natur, als ein Zeugnis von Geschichte, eingebunden in die Zivilisationsbedürfnisse des Menschen, schließlich als Verdinglichung der in Dauer und Beständigkeit gebundenen Flüchtigkeit des Augenblicks, der Zeit, eine autonome Realität verkörpern. Seit 1977 vermittelt Rolf Jörres seine Erfahrungen und Einsichten als Lehrer an der Kunstakademie in Düsseldorf.

Schon in den frühen Werken des Künstlers Anfang und Mitte der sechziger Jahre werden wesentliche Kriterien seiner Arbeit faßbar. Rolf Jörres überarbeitete beispielsweise einen rechteckigen Basaltlavablock mit Hammer und Meißel gleichmäßig so, daß ohne jegliche ornamentale Akzentuierungen durch die abgerundeten Kanten und gemuldeten Seiten alleine der Charakter des Steinkörpers in seiner ihm eigenen Substanz zum Ausdruck kommt. Er führte darüber hinaus eine Gliederung des Volumens durch die horizontale Einschnürung des ungeteilten Steinkörpers ein, die es ihm erlaubte, das Verhältnis von Masse und Gewicht in allen Varianten: von Liegen oder Stehen, von Tragen oder Lasten, von Ruhe oder Bewegung, als Phänomene der Realität an sich sichtbar zu machen. In allen Beispielen dieser Werkphase strebte der Künstler eine größtmögliche Präzision in der Formulierung solch grundlegender Erfahrungstatsachen an.

1964 nahm Rolf Jörres an dem schon 1959 von Karl Prantl initiierten internationalen Symposion der Steinbildhauer in St. Margarethen / Burgenland teil. Dort errichtete er als erstes landschaftsbezogenes Werk eine fünfteilige Großplastik aus vorgefundenen Konglomeratblöcken. Je zwei übereinandergeschichtete unbearbeitete Blöcke bilden Türme, die von dem fünften zwischen ihnen zu einer Einheit von architektonischem Gewicht zusammengebunden werden. Offenbar sind Eindrücke antiker Tempelanlagen oder italienischer Landschaftsarchitektur in die akzentuierende Aufstellung der Plastik auf einem flachen Hügel mit eingeflossen. Doch findet vor allem die Weite und Großzügigkeit der lichterfüllten Landschaft in der ebenso monumentalen wie einfach gegliederten, Ruhe und Konzentration ausstrahlenden Plastik ihre unmittelbare Entsprechung. Damit formulierte der Künstler in dieser Arbeit offensichtlich kontrapunktisch den Charakter der Landschaft, wie er sie wahrgenommen und empfunden hatte, in gleicher Weise, wie er in der ersten Werkgruppe die Kongruenz zwischen der Beschaffenheit und dem Wesen des ausgewählten Steins und seinen physikalischen Bedingungen als Ergebnis von Wahrnehmungsfakten zu verdeutlichen suchte. Dies bleibt auch in den folgenden Werkphasen die entscheidende künstlerische Problemstellung. Vor dem Hintergrund der Großplastik in St. Margarethen und dem hier als sinnvoll und notwendig erwiesenen Umgang mit vorgefundenen, unbearbeiteten Steinblöcken, ihrer Übereinanderschichtung und Zuordnung wird der Durchbruch verständlich, den er in der Auseinandersetzung mit Einzelsteinen nun erzielte.

Der Künstler setzte 1965 die gleichmäßige Rundumbearbeitung meist länglicher Steinblöcke, die ihre Volumen und ihre Substanz nicht nur offenlegt, sondern objektiviert, wie sie auch andere, von außen herangetragene inhaltliche Assoziationen bewußt neutralisiert, nun in einer veränderten Absicht fort. Rolf Jörres suchte durch einfache oder mehrere Einschnürungen des Steinkörpers nicht mehr so sehr ein bestimmtes Verhältnis etwa von Masse und Gewicht anschaulich zu machen. Vielmehr setzte er möglichst gleichwertige Formglieder in vertikaler Abfolge so zueinander in Beziehung, daß das Verhältnis der Einzelglieder zum Ganzen im Sinne eines ausgewogenen architektonischen Systems eine Einheit bildet. Dadurch wurde der Widerspruch zwischen der materiellen Substanz des ausgewählten Steins, der durch seine Härte und Sprödigkeit dem Künstler einen qualitativen Widerstand entgegensetzte, und der »Idee«, die in dem Willen der oben angedeuteten, so und nicht anders geplanten Bearbeitung ihren Ausdruck fand, als eigentlicher Gestaltungsinhalt objektiviert. Damit gelang es Rolf Jörres, eine »Idee«, die nicht nur als Inhalt seines künstlerischen Wollens, sondern vor allem auch als Instanz der Selbstbefragung und Selbstanalyse aufgefaßt werden kann, als ein objektiviertes Kriterium seiner bilbhauerischen Tätigkeit zu formulieren.

Im Umgang mit dem Stein kam ihm darüber hinaus 1965 ein Zufall zur Hilfe, der eine entscheidende Erweiterung des Handlungsraumes ermöglichte. Eines Tages zersprang dem Künstler infolge immer tiefer vorgetriebener Einschnürungen der Steinkörper in zwei Teile. Die »Säule« war zerbrochen und leitete so von einem hauptsächlich vertikalen Aufbau in eine Ordnung der horizontalen, räumlichen Entfaltung über, die noch heute die Arbeit von Rolf Jörres bestimmt. Dieser Vorgang ist für ihn deswegen von weitreichender Bedeutung, weil sich, eigentlich ohne sein willentliches Zutun, die bildnerische Objektivierung dessen, was wir »Idee« genannt haben, von selbst materialisiert hatte. Das künstlerische Handeln konnte von nun an auf die Auswahl der Steine, gleichwertige Überarbeitung aller Seiten und ihre Zuordnung, durch die die »Idee« ihre Verwirklichung fand, beschränkt werden.

Anläßlich der Ausstellung »Szene Rhein-Ruhr« 1972 in Essen entdeckte er alte Bordsteine, Basaltlavablöcke, die teilweise noch in der ursprünglichen Länge erhalten, meist aber zerbrochen waren. Der Künstler beschränkte sich darauf, diese Fundstücke, die wegen ihrer Banalität achtlos beiseite lagen, dennoch geschichtliche Zeugnisse sind, mit wenigen Meißelschlägen so zu überarbeiten, daß ihre vorangegangenen Funktionen verschleiert, das heißt neutralisiert wurden. Allein ihre materielle Substanz und vom Zufall bedingte Struktur traten noch in Erscheinung. Er ordnete sie zu Gruppen vertikaler und horizontaler Glieder, in die nun »Raum« als Bezugsebene in zweifacher Weise eindrang: erstens, analog der Formulierungen, die seine bisherige Arbeit bestimmten, durch Volumen, die er miteinander in Beziehung setzte, als Binnenraum also, aber mit vielschichtigen Bedeutungsaspekten; zweitens »Raum«, der einerseits durch die scharf kontrastierenden Proportionen der Steinelemente und andererseits durch die weitgehend unberührt gelassene natürliche Oberflächenstruktur als Umraum und in bezug auf Freiplastik als Landschaftsraum in die Ordnung mit einbezogen wurde.

Wir stoßen hier 1972 auf die ersten Beispiele einer die Funktion der Plastik differenzierenden Gestaltungsweise, die auch der Arbeit »Steinfelder« zugrunde liegt. Rolf Jörres formuliert mit den Kompositionen von Steinfragmenten ganz bestimmte Probleme der Wahrnehmung wie beispielsweise Primärphänomene bei der Bestimmung und Erfahrung von Raum: Liegen und Stehen, vereinzeltes oder verbundenes Stehen, Aufliegen oder Überbrücken, Reihen, Reihe aufbrechen, in Richtungen weisen, Einschließen, Öffnen; bildnerisch angelegte Figurationen also, in denen jeder Stein eine genau festgelegte Funktion verkörpert. Andererseits macht der Künstler durch die Verfremdung der Steine aus dem älteren funktionalen Zusammenhang, der ihre schematisierten Formen festlegte, und durch den Verzicht auf die weitergehende Veränderung ihrer Oberflächenstruktur die Realität ihrer materiellen Substanz, das heißt ihre Natur und damit zugleich die Natur ihrer Umgebung, sei es ein Innenraum oder ein Landschaftsraum, bewußt. Kunst und Natur werden hier, das kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, in eine sich wechselseitig erhellende Beziehung zur Erweiterung der Wahrnehmung und Vertiefung des Bewußtseins gestellt.
Rolf Jörres hat die Erkenntnisse aus diesem Schritt in seinem Beitrag für die Sommerausstellung der Galerie Falazik 1974 »Kunst — Dorf« mit einer Großplastik aus drei Findlingen zunächst in einem dörflichen Ambiente verwirklicht, die in ihrer Konzeption jedoch noch seinem ersten landschaftsbezogenen Werk in St. Margarethen verbunden bleibt. Mit der Arbeit »Steinfelder« 1979 aber fand er eine Lösung, in der er zum erstenmal das Medium »Plastik« und das Medium »Landschaft« als objektivierte Elemente einer neuen zukunftsweisenden Gesamtkonzeption von Landschaftskunst thematisierte. Versucht man sie im Zusammenhang mit der Kunst der letzten Jahre zu sehen, insbesondere in Verbindung mit dem Themenkomplex Kunst und Natur, den die Künstler seit Mitte der sechziger Jahre zum Gegenstand ihrer Fragen und Analysen gemacht haben, dann muß seine Arbeit aufgrund ihrer Struktur auf zwei Kategorien hin zunächst getrennt befragt werden: in bezug auf den Stellenwert und die Bedeutung der Kategorie »Plastik« in der Kunst und die der »Landschaft«.

III

Die »Plastik« bleibt, wie oben gezeigt werden konnte, in der Arbeit »Steinfelder« eine autonome, in sich abgeschlossene Einheit. Sie ist das eigentliche Medium seines künstlerischen Wollens. Vier Phasen führten Rolf Jörres in der Auseinandersetzung mit dem Stein folgerichtig von der Aufdeckung seiner geologischen Substanz und der Struktur der physikalischen Gesetze, denen er unterliegt, bis zur Materialisation der Bezugsebenen, in die er als ein Beispiel für Primärphänomene der Wahrnehmung und Bewußtmachung von Realität ursächlich eingebettet ist. Er faßte den Stein daher nie als Mittel der Veranschaulichung bildnerischer oder literarischer Inhalte, sondern immer als eine autonome Realität mit eigener Gesetzmäßigkeit auf, die es herauszuarbeiten galt. In diesem Ansatz werden die Voraussetzungen deutlich, von denen Rolf Jörres ursprünglich ausging: es ist das Denken eines Architekten und seines vitalen Interesses an der Substanz und Struktur der Materialien, mit denen er beim Bauen umzugehen hat, sowie den Funktionen, die sie ausfüllen können. Ihm entspricht die Logik, mit der er auf der Ebene der Plastik von der Analyse zur Thematisierung der Anschauung vorgeht. Sie findet in der Methodik seiner Arbeitsweise ihren Ausdruck, mit der Rolf Jörres schrittweise seine bildhauerische Tätigkeit von dem aktiven Eingriff einer den Stein verändernden Gestaltung auf den einfachen Akt des Auswählens und Zuordnens von Fundstücken, wie in »Steinfelder«, zurückführt. Gerade in diesem für einen »Bildhauer« ungewöhnlichen, aber radikalen Verfahren, das den Maßstäben einer von ästhetischen Kriterien abhängigen Gestaltung des Schönen oder Häßlichen, des Realen oder Imaginären zu widersprechen scheint, findet der Künstler zu Gestaltungsprinzipien, die während und nach dem ersten Weltkrieg als Protest gegen jede Ästhetik von Hans Arp, Max Ernst, Kurt Schwitters, Francis Picabia oder Man Ray in den »DADA«-Collagen und Objekten durch die Zusammenstellung heterogener Fundstücke aus dem Bereich des Banalen, entdeckt und ausgebildet wurden. Während Hans Arp auf ihrer Grundlage oder der in seiner Tradition stehende Henry Moore in ihren Plastiken den Gestaltreichtum der Natur besonders am Beispiel des menschlichen Körpers abstrahierten und die Ästhetik ihrer Urform aufdeckten, enthüllt Rolf Jörres am Beispiel der von ihm ausgewählten und lediglich einander zugeordneten Steine die Ästhetik der objektiven Realität von Natur, des Seienden. Es ist die Ästhetik ihrer geologischen Beschaffenheit ebenso wie die der physikalischen Gesetze, deren Wirkungsweisen er durch die Steine zur Anschauung bringt. Ohne daß diesem Gesichtspunkt zu großes Gewicht beigemessen werden soll, hilft er doch die Stellung seines Werkes in der Kunst der vergangenen Jahrzehnte näher zu bestimmen.

Mit der ebenso einfachen wie klaren Formulierung seiner Konzeption in der Plastik, die konkrete Phänomene der Natur als Wahrnehmungskriterien verkörpert, steht die Arbeit von Rolf Jörres den Intentionen der frühen Zero-Gruppe, in besonderer Weise m. E. aber Günther Uecker und Klaus Rinke nahe, auch wenn diese keine Bildhauer im traditionellen Sinn sind. Günther Uecker sagte 1969: »Der heutige Künstler produziert und realisiert Ideen, die als Beispiel für eine neue Umwelt dienen können. Die Idee wird im Gegenstand als Produkt realisiert. Diese realen Gegenstände sind Verdeutlichungen einer neuen Betrachtungsweise. Diese Gegenstände haben keinen Objektwert, sie haben ihren Zweck in dem Augenblick erfüllt, wo sie ins Bewußtsein aufgenommen werden. Diese Gegenstände können wie Werkzeuge für Gedankenprozesse verstanden werden. — Ein Künstler ist ein Erfinder, ein Erfinder von Ideen, die sich visuell realisieren lassen, die als Gleichnisse einer geistigen Entwicklung dienen können.« 1

Oder Klaus Rinke, der sein Selbstverständnis und seine Funktion als Künstler 1972 mit der Bemerkung erläuterte: »Vielmehr verstehe ich mich als Plastiker, das heißt als ein Künstler, der visuelle Dinge plastisch greifbar macht, wobei die Endformulierung in kürzerer oder längerer Zeitdauer stattfinden kann. Das Plastischwerden vollzieht sich in bestimmten prozeßhaften Formen, die mit der präzisen Benennung des Vorganges Bezeichnung und Sinn erhalten.« 2

Beide Äußerungen untermauern mir wesentlich erscheinende konzeptionelle Aspekte im Werk von Rolf Jörres, die, im Sinne einer Abgrenzung, beispielsweise nicht mit der Arbeit von Ulrich Rückriem verglichen werden können. Die geschnittenen und gespaltenen Dolomitblöcke dieses Künstlers verkörpern vielmehr allein formale Zusammenhänge entweder zwischen dem Material und dem gewählten Maß als in sich abgeschlossenen plastischen Einheiten oder zwischen dem Material, dem Maß und dem Ort, auf den sie meist bezogen und von dem sie dann auch abhängig sind. Sie müssen daher als Vermittlungsinstanzen für die Wahrnehmung von Raum als einer formalen, das heißt abstrakten und nicht wie bei Rolf Jörres, dies ist entscheidend, als einer inhaltlichen, das heißt konkreten Kategorie verstanden werden.

Raum — als eine inhaltliche Kategorie aber objektiviert Rolf Jörres in seiner Arbeit »Steinfelder« — und gerade darin geht er einen wichtigen Schritt über sein bisheriges plastisches Werk hinaus, durch die lockere, unsystematische Anordnung der Steingruppen in der Landschaft des Ödlandes bei Neuenkirchen als Landschaftsraum. So wird die Landschaft selbst zu einer Kategorie dieser Arbeit. Gerade darin aber unterscheidet sich seine Konzeption entscheidend von all jenen Ansätzen in der Kunst, die Landschaft als Mittel der Objektivierung einer subjektiven Raum- oder / und Zeiterfahrung heranziehen. Dies gilt besonders für die Realisierungen beispielsweise von Richard Long, der mit seinem »Stein Kreuz« (1969), dem überwachsenen »Erd Kreis« (Krefeld 1969) oder seinem Beitrag für die Ausstellung »Skulptur« in Münster 1977 »Stone Cairn«, wie Günther Uecker formuliert, »auf etwas hinweist, was uns verlorengegangen zu sein scheint… Ich meine hier den unartikulierten Raum«, 3 der, wie Dennis Oppenheim oder Jan Dibbets, sei es mit Erdarbeiten, durch eigene Körpererfahrungen oder mit Hilfe der Kamera Zeitabläufe der Natur durch Bewegungssequenzen im Landschaftsraum erfahrbar macht.

Dies gilt ebenso für die landschaftsbezogenen Arbeiten für die documenta 1977 in Kassel, wie etwa von Robert Morris, die vielleicht noch am ehesten mit »Steinfelder« von Rolf Jörres verglichen werden kann. Robert Morris setzte verschiedene Steingruppen oder auch Einzelsteine, die eine Linie bildeten, ohne eine erkennbar übergreifende Ordnung auf eine der von Bäumen dicht umschlossenen und daher als Flächen eindeutig abgegrenzten Wiesen der Karlsaue. Darunter befanden sich u. a. vier quadratisch angelegte Steinhaufen, die in einem übergeordneten Quadrat einander so zugeordnet waren, daß sie zwei Achsen bildeten, die sich kreuzten, eine Steingruppe, die wie aufrechtstehende Säulenstümpfe dichtgedrängt eine Reihe als Raumriegel, sowie eine Gruppe von Steinen, die liegend und stehend eine völlig unregelmäßige Einheit bildeten. Robert Morris hat sich über die Absichten, die seinem Beitrag für die documenta 1977 zugrunde lagen, selbst geäußert: »In Betracht gezogen, einbezogen, umgeändert oder abgelehnt: Schluchten und Korridore; Hügel und Haufen; gleichgeschichtete Faltungen und Verwerfungen; Klippen und Wälle; Kavernen und gemeißelte Höhlungen; Halden und Klötze. . . Ein durch die Plastik geprägter Außenraum mit Steinquadern und Dampf. Ein Werk, das keine Skizzen voraussetzt, das keine Planform nach Grundriß und Aufriß besitzt, das nicht an einfriedende Architektur erinnert, nicht an bombastische Erdarbeiten, nicht an Kunstobjekte als Fetisch.« 4 Robert Morris definiert hier einen »Außenraum«, der an die Plastik als Gestaltform selbst unmittelbar gebunden bleibt. Den Landschaftsraum aber, das heißt »Landschaft« als eine objektivierte Kategorie der Kunst, wie Rolf Jörres sie verwirklicht, meint er nicht.

IV

1978 schrieb Ruth Falazik in der Einladung zur Sommerausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« zu dem gestellten Thema: »In diesem Jahr werden die Strukturen des ländlichen Raumes mit denen der künstlerischen Arbeit verglichen. Diese Beziehungen: bäuerliches Ambiente — künstlerisches Ambiente sollten dargestellt werden. Die meist von ökonomischen Gegebenheiten geprägte Landschaft zeigt Formen und Situationen, die mit den Werken der beteiligten Künstler Parallelen aufweisen — so kann es in beiden Fällen zu ähnlichen ästhetischen Ergebnissen kommen, obwohl sie von divergierenden Denkansätzen ausgehen.«

Dieser Gedanke stellte die eingeladenen Künstler vor eine neue und ungewohnte Aufgabe. Es wurde von ihnen im Unterschied zu sonst üblichen Symposien, bei denen kein ebenso klares und doch zugleich so offenes Thema gestellt wird, sondern jeder Künstler einen beliebigen, allein in seinem Werk begründeten Beitrag leisten kann, erwartet, ihre Ideen und Gestaltungsvorstellungen, die jeder im Rahmen seine individuellen Beschäftigung mit der Natur als »Kunst« von subjektiver Bedeutung und Aussagen gewonnen hatte, nun in der Auseinandersetzung mit dem Wesen und Charakter der Landschaft um Neuenkirchen, das heißt ihrer geologischen, biologischen und ökonomischen Struktur, neu zu entwickeln.

Neu und ungewohnt war die Aufgabenstellung, weil »Landschaft« nicht mehr als ein Mittel aufgefaßt werden konnte: sei es für die inhaltliche Objektivierung subjektiver Erfahrungen von Raum und Zeit oder der formalen Verdinglichung von Raum in abstrakten Beziehungen von Material, Maß und Ort, sei es als Bühne zur Verkörperung einer Annäherung an die eigene Identität wie im Symposion der Galerie Falazik des Jahres 1976 »Plätze der Macht — Orte der Kraft«, oder für die Bewältigung der in der Landschaft um Neuenkirchen bereitliegenden Materialien wie Pflanzen, Erde, Wasser, Steine, Bäume des Agrar-, Heide- und Ödlandes in dem Symposion »Material aus der Landschaft — Kunst in die Landschaft«. »Landschaft« sollte vielmehr in ihrer unendlichen Vielfalt gerade als Einheit von Natur, Raum und Geschichte in ihrer immanenten gewachsenen Struktur verstanden und im Kunstwerk objektiviert werden. Dies ist exakt das Problem, das Rolf Jörres in seiner Arbeit »Steinfelder« 1979 ebenso einfach wie klar als »Idee« verwirklicht hat.

Anmerkungen

1) Katalog Günther Uecker, Hannover 1972.

2) Klaus Rinke »Zeit-Raum-Körper-Handlungen«,Tübingen 1972. S. 16.

3) Günther Uecker: Rolf Jörres (1969) in Katalog »Szene Rhein-Ruhr«, Essen 1972.

4) Robert Morris zu »Untitled« 1977 in Katalog documenta 6, Kassel 1977, Band 1, S. 210.

Aram Bartholl – Keepalive (2015)

Von außen betrachtet wirkt „Keepalive“ von Aram Bartholl (*1972 in Bremen) wie ein ganz normaler Findling. Man sieht dem Stein, der unscheinbar am Rande der idyllischen Ortschaft Hartböhn in der Lüneburger Heide liegt, nicht an, dass sich in ihm hunderte von digitalen Büchern befinden. Erst wenn jemand darunter ein kleines Lagerfeuer entfacht, werden ein thermoelektrischer Generator und ein WLAN-Router im Inneren aktiviert und man erhält per Smartphone oder Laptop Zugriff auf eine elektronische Bibliothek mit Überlebensratgebern aller Art, zu der man eigene Daten und Texte hinzufügen kann.

Der Medienkünstler Aram Bartholl arbeitet mit Wegen der Wissens- und Informationsvermittlung, die den Entwicklungen des digitalen Zeitalters entgegenwirken und unseren Umgang mit Daten hinterfragen. In diesem und anderen seiner Projekte hebelt er Machtverhältnisse und Kontrollmechanismen bei der Nutzung von Internetdiensten zur Datenübertragung aus, häufig auch durch das Hinzufügen einer unkontrollierbaren Zufallskomponente.

Mit „Keepalive“ wird der Stein selber zum Datenträger. In einer sehr archaischen aber auch konspirativen Art und Weise können Informationen lediglich lokal ausgetauscht werden, denn im Gegensatz zu weltweit vernetzten Servern, Services und Clouds ist dieser Stein nicht mit dem Internet verbunden. Man muss in die Natur gehen um den Stein zu finden und ein Feuer machen, um die Datenquelle zu aktivieren. Dies kann jeder tun, der sich vorher im nahe gelegenen Kunstverein Springhornhof oder über andere Quellen den genauen Standort hat erklären lassen.

Beherzigt man die Ratschläge aus der Sammlung von Survival-Guides ist man gewappnet, – so zumindest lautet ihr großes Versprechen – für das einsame Überleben im Wirr-Warr der Welt der Computerprogramme ebenso wie in der Wildnis.“„Keepalive“ stellt die Frage, was „Überleben“ wirklich meint, und ergründet unsere Bedürfnisse. Die Arbeit stellt sich dem Zentralisierungszwang im Internet entgegen, wirft Fragen zur Demokratie der Wissensverwaltung auf und leitet eine Gegenbewegung der Autonomie ein.“ (Jennifer Bork)

Aram Bartholl (*1972 in Bremen) ist Mitglied der Künstlergruppe Free Art and Technology Lab – F.A.T. Lab und bewegt sich in netzpolitischen Kreisen wie z.B dem Chaos Computer Club. Neben zahlreichen Vorträgen, Workshops und Performances wurden seine Arbeiten international u. a. ausgestellt im MoMA Museum of Modern Art, NY, The Pace GalleryNY und Hayward Gallery London. Aram Bartholl lebt und arbeitet in Berlin.

Das Projekt „Keepalive“ von Aram Bartholl entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Art and Civic Media“ als Teil des Innovations-Inkubators Lüneburg, einem EU-Großprojekt, gefördert vom Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung und vom Land Niedersachsen.

Hans Dickel — Augenwaider

Jahr 1988
Titel Augenwaider
Künstler Horst Hellinger
Autor Hans Dickel

Horst Hellingers feuerroter Blickfang in der Heidelandschaft wirkt schon von weitem. Unübersehbar lockt die architektonische Attraktion Besucher herbei. Doch es ist nicht gleich auszumachen, was die begehbare Skulptur zu bieten hat. Beim Eintritt in das karge Gehäuse aus Eisenblech wird der Blick sofort wieder ins Freie geführt: Wer sich einem Eingang nähert, schaut hindurch in die Landschaft jenseits des Doppeltores. Das Gehäuse besteht aus zwei gleichen Passagen, die sich über einer quadratischen Grundfläche durchdringen und zu einem kreuzförmigen Bau verbinden. Die schlanken Wände sind im Fundament unter einem Pflaster aus Blaubasalt befestigt. Über die Vierung kreuzen sich die Giebeldächer der beiden Gänge.

Alle fünf Joche der Konstruktion sind gleich groß. Die klare Gliederung folgt dem „gebundenen System“ der Sakralarchitektur, das z.B. schon den schmucklosen Saalkirchen der Reichenauer Romanik zugrundeliegt und in der Kreuzung des Lang- und Querhauses von St. Michael zu Hildesheim (1010-1033) künstlerisch zu voller Geltung kommt. Zweifellos, Hellingers Eisengebilde bezieht sich auf die Tradition großer Bauformen. Die lotrecht verschweißten Blechplatten sind als Zentralbau organisiert und vermitteln in idealtypischer Knappheit die Raumerfahrungen des Übergangs von Außen und Innen.

Durch die Verwendung elementarer Grundformen ergeben sich vielfältige Analogien. So ist die hermetische Konstruktion auch in der Nachfolge der französischen Revolutionsarchitektur zu sehen. Hier sei auf das kreuzformige „Haus der Köhler“ verwiesen, das Claude Nicolas Ledoux (1736-1806) für die Idealstadt Chaux entworfen hatte: Ein schmuckloses aus Stämmen zusammengestelltes Gebäude mit vier gleichwertigen Ein- und Ausgängen. 1 Doch Hellinger plündert keinen Motivvorrat, vielmehr zeigt sich in seiner Arbeit mit einfachen Bauelementen ein geklärtes bildhauerisches Konzept.

An den Grenzen der Gattungen angesiedelt ist die Skulptur insofern Architektur, als sie dem Betrachter Handlungsformen im Raum vorgibt. Weil der Bau aber in seinen Teilen und als Ganzes bildhaft gestaltet ist, hat er den Charakter einer Skulptur. Der Widerspruch kehrt wieder im Verhältnis des Werkes zur umgebenden Landschaft: Das Doppeltor markiert einen zentralen Aussichtspunkt in einer weiten Ebene, deren eigentliche „Sehenswürdigkeit“ die Skulptur selbst darstellt.

Als Kunst in der Landschaft und Kunst mit der Landschaft ist AUGENWAIDER, so der Titel der Skulptur, auch in der Tradition der Gartenkunst des 18. Jahrhunderts zu sehen. Die Kontroversen der Theoretiker von damals werfen manch erhellendes Licht auf die heutigen Diskussionen über „Kunst im öffentlichen Raum“. Im 18. Jahrhundert schmückten die Großbürger ihre privaten Parks mit dekorativen Staffagebauten. Zum Erstaunen der überraschten Besucher standen allenthalben ephemere Kleinarchitekturen: Pavillons und Grotten, klassizistische Rundtempelchen, ägyptische Obelisken, versteckte Kuriosa, aber auch schon malerische Stimmungsrequisiten wie Köhlerhütten, Eremitagen oder künstliche Ruinen. Caspar von Voght, der in Hamburg einen englischen Landschaftsgarten, den späteren Jenisch-Park, anlegen ließ, äußerte sich polemisch gegenüber dieser Pseudokultur, denn die „Überladungen in (manchen) berühmten Parks haben ihm einen frühen Ekel für die sinnlose Zusammenstellung von griechischen Tempeln und gothischen Kirchen, chinesischen Pagoden, türkischen Bädern und Klausnerhütten beygebracht.“ Voght verzichtete in seinem Park auf diese altmodischen „batiments d’effet“, statt dessen wies er seine Gärtner an, „jeder Landschaft den Charakter abzulauschen, den die Natur ihr verlieh diesen mit sorgsam schüchterner Hand auszubilden, und dem Beschauer zu verdeutlichen“. 2 Die Landschaft selbst sollte zu bildlicher Wirkung gesteigert werden; einzeln stationierte Wegzeichen lenkten die Besucher zu den reizvollsten Ansichten. Holzhütten oder nur schlichte Sitzbänke und Gedenksteine markierten „the most picturesque views“. Dort konnte der Spaziergänger für Augenblicke der „Empfindsamkeit“ verweilen und Ausschau halten; der Gang durch den Landschaftsgarten wurde zum Gedankengang.

Eines der Tore rahmt den Blick nach Neuenkirchen und läßt ein fast klischeehaftes Motiv entstehen: Weite Getreidefelder im Vordergrund, dahinter flankierende Waldränder mit der Sicht auf das Dorf und seinen schlanken Kirchturm, der den Saum der Baumkronen und die geduckten Giebel der Häuser überragt. Doch das Doppeltor richtet den Blick der Besucher auch auf die drei anderen „gerahmten“ Motive: Gegenüber erscheint eine Ansiedlung von Bauernhöfen, an den Seiten sieht man einmal nichts als Himmel und Erde, vis a vis streift der Blick über Acker- und Weideland, das von einer Autostraße diagonal durchschnitten wird. Die vier Ansichten werden als gleichwertig dargestellt, die „romantische“ Heidelandschaft ist nur einer der möglichen Ausschnitte.

Wer sich auf die Eigengesetzlichkeit der Skulptur einläßt, wird statt der festgelegten Blickregie ein freies Roulette der Blicke erleben können.

Nur äußerlich gesehen schließt die Skulptur an die Tradition romantischer Gartengestaltung an.

Als schmuckes Gehäuse wirkt sie mit ihrer symmetrischen Gestalt und dem intensiv leuchtenden Rotanstrich anziehend auf die Wanderer. Wer aus dem weiten Gelände kommend das Werk betritt, wird dann plötzlich in die Enge geführt. Hellingers Artefakt führt nach Innen, es fordert förmlich Konzentration. Doch von dem leeren Mittelpunkt aus geht der Blick gleich nach vier Seiten zurück ins Freie. Ein derart komprimiertes Landschaftserlebnis wird nur dann vermittelt, wenn man die architektonische Skulptur als solche wahrnimmt. Wer das schmale, hohe Doppeltor von Innen erlebt hat, wird die Weite der umgebenden Landschaft anders, vielleicht als Befreiung, empfinden. Umgekehrt scheint sich der Außenraum beim Eintritt in die überdachten Gänge schleusenartig zu verdichten, gleich einer Linse scheint das Gehäuse Elemente der Landschaft zu versammeln. Es bildet sich ein Zentrum in Menschengröße, von dem aus der Besucher wie mit einem Kompaß ferne Orte anvisieren kann. Achtet man auf die skulpturalen Qualitäten von AUGENWAIDER, so sind ähnliche Gegensätze zu entdecken. Von Außen, von den Ecken her gesehen, erscheint das prägnant kreuzförmige Werk völlig verschlossen. Geht man weiter zu einer der Toröffnungen, so gibt sie eine Durchsicht in die Heidelandschaft frei. Und von Innen wirkt der Bau sogar wie ein optisches Instrument, das vier Blickrichtungen akzentuiert. So bietet die Skulptur ein ganzes Spektakel von Ansichten, von Einblicken und Durchblicken. Dabei kann sich für die Besucher als kommunikatives Moment gelegentlich die reizvolle Situation des überraschten Voyeurs ergeben — Sehen und gesehen werden.

Grundelement des Tores ist die Tür, ein Modul, das der Künstler schon in früheren Werken verwendet hat. Es bestimmt nicht nur die Abmessungen der beiden Gänge, nicht nur den umbauten Raum, sondern auch die Positivformen der acht gleichmäßig zugeschnittenen Wandteile des Werkes. Türen sind proportional auf den Betrachter bezogen und bringen neben der menschlichen Dimension auch erzählerische Komponenten mit ins Werk. Die Rechteckform begegnet vor der Neuenkirchener Skulptur AUGENWAIDER schon in drei früheren Arbeiten von Horst Hellinger, in einer Platzgestaltung, einer vor Ort bearbeiteten Tür und in einem Denkmal aus Türen. Hellingers Hamburger „Sanierungsspirale“ (1981) versammelte die Wohnungstüren eines sanierten Häuserblocks. Funktional und formal verfremdet (aus den Schwellen wurden Wände), hatten sich die Türen in Glieder eines labyrinthartigen Bauwerkes verwandelt. In dem Spolien-Gebilde waren neue Raumerfahrungen zwischen Innen und Außen zu machen, zugleich war ein gemeinsames Denkmal der Sanierungsbetroffenen entstanden, eine Einheit im Innenhof. Diesem Sinnbild aus Fragmenten korrespondierte im Hamburger Künstlerhaus eine vom Künstler überarbeitete Luftschutztür (1981). Sie sollte einmal vor den verheerenden Wirkungen der Splitter- und Sprengbomben einen Minimalschutz bieten, zumindest Menschenleben retten und Sachwerte schützen. Während der Auseinandersetzung um die Neutronenbomben, die zwar Sachwerte verschonen, aber Menschen durch ihre immense Strahlungsintensität vernichten, sah sich Hellinger veranlaßt, auf diesen hemmungslosen Zynismus der Naturwissenschaft zu reagieren: „Meinem Beruf gemäß wollte ich ein Zeichen setzten für die Zeit in der ich lebe.“ Das funktionslos gewordene Requisit aus dem Zweiten Weltkrieg wurde mit dem Schneidbrenner bearbeitet, an den Rändern der ausgeschnittenen Formen blieben Farbablagerungen zurück. Klaffende Wunden durchlöchern nun die Stahltür und demonstrieren ihre Funktionslosigkeit: Kein noch so starker Stahl kann die tödlichen Strahlen hindern.

Auch für eine Platzgestaltung in Hamburg-St. Georg hat der Künstler Eisenbleche im Format einer Tür benutzt. 3 Zugeschnittene Schiffsplanken mit rostender Oberfläche wurden hier als abstraktes Ensemble vor einer Kirche und neben einem Baum aufgestellt. Am Ort wecken sie vielfältige Assoziationen, an ein Schiff etwa läßt sich denken oder auch an eine Menschengruppe; und in ihrer Plazierung erinnert die Skulptur zugleich an zerstörte städtebauliche Zusammenhänge. Die mannshohen Eisenbleche wurden wie Lamellen in loser Verteilung aufgebaut und stiften inmitten der disparaten City-Architektur einen Bezugspunkt. Vielteilig und allseits offen für die Passanten eröffnet die Skulptur eine neue Sicht auf den Stadtteil. In Neuenkirchen dagegen hat Hellinger die Eisenbleche in eine festgefügte Form gebracht: Seine Skulptur stiehlt der Landschaft die Schau, um den Blick von innen erneut auf sie zu lenken.

Wirkt das Gehäuse aus der Ferne fast zeichenhaft, so spürt man von nahem die Festigkeit und Schwere des Materials. In ihrer feuerroten Lackübermalung erscheinen die aufrechten Platten seltsam leicht. Tatsächlich lasten aber dreieinhalb Tonnen auf der Plinthe in der Heide. Die sauber verschweißten Teile enden in glatten Schnittkanten, wodurch die statuarische Strenge des steilen Baukörpers noch betont wird. Hellinger hat das geometrisch geformte Gebilde besonders in der Dachzone bearbeitet. Mit einem millimeterfeinen Gasstrahl wurden längliche Schlitze und schartige Formen herausgeschnitten. Als bildliche Zeichen laden die Leerstellen zum freien Gestaltsehen ein. Irregulär geformte Gucklöcher sind entstanden, durch die man die Bewegung der Wolken beobachten kann. Doch es wurden auch Einfallslöcher für Regen und Licht geöffnet, die Wasserflecken auf den Boden und Sonnenbilder an die Innenwände projizieren. Bei bestimmten Witterungsverhältnissen, etwa im Morgendunst, erfüllen Lichtbündel die Passagen von den Seiten her. Die herausgebrannten Formen haben Lücken hinterlassen, an deren Konturen noch Klumpen geschmolzenen Eisens kleben. Auch die Lackschicht wurde bei der Arbeit in Mitleidenschaft gezogen: Die malerischen Randzonen der Einschnitte lassen fast vergessen, daß sie Spuren schwerer Materialverletzungen sind. Changierend zwischen Giftgrün und Gelb, bläulichem Grau und kränklichem Schwarz, überziehen diese Narben die ganze Skulptur. Das kompositionell streng kalkulierte und technisch präzise gebaute Werk ist von allen Seiten durchlöchert. Mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit verteilt, besetzen diese Negativ-Formen das konstruktive Äußere des symmetrischen Gehäuses. So verbindet die Skulptur Bauwerk und Bilderwand und vereint die architektonische Form-Reduktion mit einer bildhafte Vorstellungen provozierenden Formenvielfalt.

Das Formenrepertoire am Dach gibt Ausblicke in den Himmel frei und erinnert dabei selbst an astronomische Konstellationen, in denen die Phantasie so gerne figurative Sternzeichen entdeckt. Durch die Ausschnitte ist die Skulptur AUGENWAIDER so direkt zum Himmel geöffnet, daß sich das Firmament selbst darstellen kann — ein einfacher Kunstgriff, für den es ein berühmtes Vorbild gibt: Boullées Newton-Kenotaph von 1784, eine geplante Kultstätte der Aufklärung. 4 Etienne-Louis Boullée (1728-1799) hatte für den englischen Astrophysiker Sir Isaac Newton ein Denkmal in Kugelform erdacht. Im Innern des gigantischen Bauwerks sollte ein leerer Sarg stehen. An der oberen Kugelschale sollten ausgesparte Lichtlöcher zum Himmel so angeordnet werden, daß innerhalb des Kugelbaus der Eindruck eines gestirnten Himmels entsteht. Das Denkmal war konzipiert als ein säkularisierter Sakralbau des sich selbst abbildenden Universums — zum Andenken an den Naturalisten Newton, der die kosmischen Gesetze der Himmelsmechanik erkannt hatte. 5

Hellingers Ausschnitte, die zugleich Einschnitte sind, folgen keinen himmlischen Strukturgesetzen sondern künstlerischen Entscheidungen, sie sind der Naturanschauung vor Ort verpflichtet: „Schnitte verletzten scheinbar willkürlich das sorgfältig hergestellte Tor. Die Art und Weise der Eingriffe resultiert aus der umgebenden Landschaft: Strukturen, Lineaturen von Gewächsen, Figurationen der Wolken, Spiele des Sonnenlichts, die Linie eines Hügels, eines Weges könnten der Anlaß der Zeichnungen sein.“ 6 Statt ein Abbild der Natur zu geben, erzeugt das intuitiv gewonnene Formengebilde vielerlei Assoziationen und auch im wörtlichen Sinne eröffnet die Skulptur neue Ansichten der Landschaft. Die Brandlöcher im Deckenbereich lassen an die Sterne denken. Trotz der visuellen Bezüge und der vielfachen Blickführung in die Landschaft bleibt der kreuzförmige Durchgangsbau im spröden Heideland doch ein städtischer Fremdkörper. Die dominante Farbigkeit bildet im Sommer einen scharfen Komplementärkontrast mit der grünen Umgebung. Das kantige Blechgeviert auf ausgegrenztem Standplatz paßt nicht hierher — weder das Material, noch die Proportionen, noch die Gestalt sind auf die Landschaft oder sogar die Natur bezogen. Und doch entfaltet das Gehäuse seine Qualitäten nur in der Isolation auf dem Lande. Nur im Freien läßt sich die visuelle Mitteilung der Skulptur erfahren. Zwischen den Dörfern steht sie, orientierungslos inmitten von Wiesen und Getreidefeldern, und markiert doch durch ihr Dasein einen subjektiven Standort.

ANMERKUNGEN

1 ) Claude Nicolas Ledoux, L’Architecture considérée sous le rapport de l’art, des moeurs et de la législation. Paris 1804, Tafel 109. Vgl. zu diesem Komplex: Johannes Langner, Ledoux und die Fabriques. Voraussetzungen der Revolutionsarchitektur im Landschaftsgarten. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 26,1963, S. 1-34.

2) Caspar von Voght. Flottbeck in ästhetischer Ansicht, 1824, o. S.

3) Vgl. dazu: Hans Dickel, Horst Hellinger, Platzgestaltung in Hamburg St.-Georg. In: Kunst und Unterricht 120, Februar 1988, S. 52-54.

4) Adolf Max Vogt, Boullées Newton-Denkmal. Sakralbau und Kugelidee. (Schriftenreihe des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Bd. 3) Basel 1969. Boullée hat das System der vertikalen Lichtöffnungen, die ein Abbild des Himmels erzeugen, vielleicht von arabischen Bädern abgeschaut, die (zum Schutz gegen Voyeure) nur von oben Licht erhielten, und deren schmale Lichtschächte im Inneren als gezackte Himmelssterne gestaltet waren.

5) Vgl. dazu auch: Gottfried Fliedl. Architektur als zweite Natur. Bemerkungen zur Architektur von C. N. Ledoux und E. L. Boulée. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 30/31, 1977/78, S. 239-258.

6) Horst Hellinger, Exposée zur Ausstellung in Neuenkirchen, Sommer 1988.

Will Beckers – Der Wanderer

Im August 2018 waren im Springhornhof zwölf Jugendliche aus Italien, Mexiko, Serbien, Frankreich, Russland und Deutschland zu Gast, um gemeinsam mit dem Künstler Will Beckers eine Skulptur am Randes eines Wäldchens bei Holtmannshof zu errichten.

Die Arbeiten des Belgiers (*1967) sind meistens aus Naturmaterialien, teilweise in Verbindung mit Stein und Metall. Es sind „lebende“ Kunstwerke, d.h. die natürliche oder auch eigens dafür angepflanzte Vegetation durchdringt und verändert sie im Laufe der Zeit.

Beckers Skulpturen sind von eindrucksvoller Größe, mitunter begehbar und fungieren oft als Durchgang, Tunnel oder schützender Raum inmitten der Landschaft. Der Künstler bezieht jedoch nicht nur natürliche Prozesse in seine Werke mit ein, immer wieder beteiligt er auch Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten als Mitwirkende, aber auch Mitgestalter.

Die für die Neuenkirchener Kunstlandschaft geplante Skulptur „Der Wanderer“ besteht aus einem Grundelement aus Corten-Stahl, dessen Form und Proportion an einen großen Findling erinnert. Quer über das Objekt soll eine Inschrift verlaufen, die sich direkt an den Leser, bzw. Betrachter wendet und auf natürliche Migrationsprozesse verweist, die weite Räume und große Zeitspannen umfassen. Rund um den „Wanderer“ werden Haselsträucher gepflanzt, die das Objekt im Laufe der Jahre immer stärker einfassen, überschatten und verdecken sollen.

Gefördert durch die Leader-Region Hohe Heide, den Lüneburgischen Landschaftsverband und die Bingo Umweltstiftung

Das zweiwöchige Sommercamp wurde in Zusammenarbeit mit den Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten (ijgd) organisiert.

Michael Fehr – Gegen-Steine

Jahr 1982
Titel Gegen-Steine
Künstler Nikolaus Gerhart / HAWOLI
Autor Michael Fehr

I

Autoren gelungener Initiativen bleibt zumindest, schon während andere sie gerade begreifen, übernehmen oder unter womöglich günstigeren Bedingungen breittreten, erkennen zu können, daß sie weiterentwickelt werden müssen, sollen sie ihre Kraft und Bedeutung behalten. Autoren gelungener Initiativen bleibt daher kaum eine Wahl. Halten sie an ihrer Idee fest, müssen sie Initiatoren bleiben — und sich zumeist auch weiterhin mit dem harten Brot der Pioniere bescheiden.

Jene, die als Mitglieder des neu gegründeten Kunstvereins Springhornhof Neuenkirchen nun die langjährige Initiative von Ruth Falazik unterstützen, haben dies wohl verstanden. Doch sind es noch viel zu wenige. Und wären es auch Viele mehr: Das eigentliche, das inhaltliche Problem, vor dem Ruth Falazik, die eingeladenen Künstler und sonstigen Mitstreiter bei jeder Sommerausstellung stehen, wäre damit noch nicht gelöst. Denn eben weil man in Neuenkirchen auf eine bereits zehnjährige erfolgreiche — und andernorts nachgeahmte Tätigkeit zurückblicken kann, gibt es kein Ausruhen, sondern bleibt es von Jahr zu Jahr die schwierigere Aufgabe, über die Reflexion des schon Geleisteten nicht den Mut und die Spontaneität zu verlieren, weiter am Konzept »Kunst — Landschaft« zu arbeiten.

Die Schwierigkeit dieser Aufgabe resultiert zu einem guten Teil sicherlich daraus, daß mittlerweile — und in den letzten Jahren nicht nur in Neuenkirchen — innerhalb des Konzepts »Kunst — Landschaft« die verschiedensten künstlerischen Positionen erarbeitet wurden. Allerdings erzeugt nicht die bloße Vielzahl dieser Arbeiten das Problem. Wichtig ist allein die Tatsache, daß sich mit jeder Arbeit, die in Neuenkirchen oder anderswo entstand, das Reflexionsniveau im Hinblick auf das Verhältnis von Kunst und Landschaft erhöhte: Konnte man vor wenigen Jahren allein im Umstand, daß Künstler sich aus dem Atelier in die Heidelandschaft begaben, um dort an bestimmten Plätzen mit vorgefundenen Materialien zu arbeiten, zu Recht einen wesentlichen Schritt im Sinne der Differenzierung und Aktualisierung künstlerischer Arbeitsweisen erblicken; so ist der Springhornhof in Neuenkirchen heute der Ort, an dem als Konsequenz dieser Erfahrung diskutiert wird, ob und inwieweit künstlerisches Arbeiten in und mit der Landschaft überhaupt möglich ist. Und hätte sich schon früher kein Künstler getraut, einfach nur eine Atelierproduktion in die Landschaft zu stellen, so ist doch unübersehbar, daß während der letzten Jahre die künstlerischen Eingriffe in die Landschaft einerseits immer vorsichtiger und differenzierter und andererseits immer genauer und bestimmter wurden.

Diesem Diskussions- und Arbeitsprozeß, der im folgenden anhand nur zweier Stationen skizziert werden kann, eröffnet die diesjährige Sommerausstellung »Gegen-Steine« eine wichtige, neue Perspektive, indem sie die konkrete Kunst in das Konzept »Kunst — Landschaft« einbezieht.

II

Vor vier Jahren, 1978, stand die Sommerausstellung unter dem Titel »Zwei Steine sind nie gleich«. Zwei Steine sind nie gleich, dieser Satz war nicht nur eine Feststellung, sondern skizzierte ein Konzept und eine Aufgabe: Ausgehend von ihren Vorstellungen und Erfahrungen sollten die eingeladenen Künstler in der Landschaft Verschiedenes im Gemeinsamen oder Ähnliches im Unterschiedlichen herausarbeiten. Landschaft war bei dieser Ausstellung mithin mehr Sujet als Thema; dies ergab sich erst aus der jeweiligen Spannung zwischen den in der Landschaft vorgefundenen Strukturen und Situationen und dem, was die Künstler mitbrachten. Entsprechend hatten die Objekte, die in diesem Zusammenhang entstanden, den Charakter von Landschafts-lnterpretationen. Die Landschaft als Landschaft blieb unberührt, doch war in jedem Fall erkennbar, daß bestimmte Individuen ihre subjektive Wahrnehmung gegenüber der jeweils vorgefundenen Situation geltend gemacht hatten.

An jene sehr produktive Unternehmung schloß sich folgerichtig 1979 die Arbeit von Rolf Jörres an, der durch seine »Steinfelder« die Landschaft als bestimmten Zusammenhang von Natur und Geschichte konkretisierte. Notwendig mußte dabei sein künstlerischer Eingriff weniger als subjektives Sich-Geltend-Machen gegenüber der Landschaft erfolgen, denn mehr als Arbeit, die auf die Sichtbarmachung und Objektivierung eines ihrer Aspekte abzielte. Landschaft wurde so nicht von außen, sondern gleichsam von innen her, mit ihren eigenen Mitteln auf ihren Begriff gebracht.

Überzeugten bei der Ausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« vor allem jene künstlerischen Arbeiten, bei denen es gelang, aus der Landschaft ein eigenständiges Konzept zu entwickeln und ihr als Objekt gegenüberzustellen, so ist es demgegenüber der Vorzug der »Steinfelder«, daß sie heute schon mehr als Teil der Landschaft und weniger als Kunst in der Landschaft erscheinen.

Die diesjährige Sommerausstellung »Gegen-Steine« faßt diese Erfahrungen zusammen, indem sie von den eingeladenen Künstlern Nikolaus Gerhart und HAWOLI — und von den Betrachtern — verlangt, sich mit einem bestimmten Landschaftselement, und zwar mit einem Stück Natur: mit Steinen auseinanderzusetzen. »Gegen-Steine«, als Thema und methodische Anleitung verstanden, nimmt dabei sowohl die konfrontierend-komparative Strategie der Ausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« als auch die affirmative der Ausstellung »Steinfelder« auf und verbindet sie zu einem neuen Anspruch. »Gegen-Steine« meint zwar, wie 1978, die Konfrontation mit Steinen, doch die mit bestimmten Steinen — und schließt insofern deren Affirmation ein. Andererseits meint »Gegen-Steine« im Unterschied zur Ausstellung 1979 nicht nur die Affirmation von Steinen als bestimmten Landschaftselementen — und über sie die Affirmation der Landschaft als diese bestimmte. »Gegen-Steine« postuliert vielmehr, daß Landschaft auch als Widerspruch zwischen Natur und Geschichte, als Widerspruch zwischen Sich-Vollziehen und Eingreifen aufgefaßt werden kann.

Die neue Position, die mit dem Thema »Gegen-Steine« in der Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Landschaft erreicht wird, läßt sich mithin fassen als Eingehen auf die »Natur« der Landschaft. Nicht Landschaft als Begriff oder Bild, als Material oder Atelier, als Projektionsfeld oder Bühne ist hier gemeint, sondern Landschaft als vom Menschen zugerichtete Natur und als Natur, die ihrer Kultivierung Widerstand bietet.

Überwunden sind damit zunächst jene harmonistischen Vorstellungen, denen zufolge es ein wie auch immer »befreundetes« Verhältnis zwischen Natur und Mensch — »Landschaft« sein Name — geben könne; stattdessen geht die Position »Gegen-Steine« davon aus, daß der Gegensatz zwischen Natur und Mensch unversöhnlich und Landschaft nur sein schlechter Kompromiß bleibt — den wir Städter allerdings nur zu leicht mit Natur verwechseln. Weiterhin fordert das Thema »Gegen-Steine« dazu auf, den Begriff »Landschaft« überhaupt fallen zu lassen und sie ohne begriffliche Sicherheit: als Eigengesetzlichkeit der Natur und als Eigengesetzlichkeit menschlichen Handelns zu erleben. Schließlich präzisiert das Thema diese Position am Beispiel der Steine als Handeln mit der Natur, also weder als Unterwerfung unter die Natur im Sinne eines mystisch-mythischen Denkens noch als Unterwerfung der Natur im Sinne des instrumentalen Handelns, sondern als praktisches, immer wieder neu zu bestimmendes Interaktionsverhältnis.

Ohne Frage ist ein derart offenes Verhältnis zur Natur in der Natur nur schwer zu gewinnen. Denn selbst da, wo sie zur Landschaft domestiziert wurde, bleibt sie bedrohlich und stellen sich zwangsläufig jene Abwehrreaktionen ein, aus denen sich die übernommenen Formen des Umgangs mit ihr speisen. Gleichwohl bleibt unbestreitbar, daß ein anderes Verhältnis zur Natur entwickelt werden muß – und die Frage, wie dies realisiert werden kann. Eine mögliche Antwort hat, so scheint mir, im Konzept der konkreten Kunst ihr Modell.

III

Das wesentliche Merkmal der konkreten Kunst ist, daß sie nichts darstellt oder bedeutet, was sie nicht auch ist: Weder sind in der konkreten Kunst das Material und dessen Form Vergegenständlichung einer bestimmten »idea«, die das, was das Material und dessen Form faktisch sind, wie auch immer kategorial übersteigt; noch besteht in der konkreten Kunst — allerdings nur in der radikalen — eine prinzipielle Indifferenz im Verhältnis zwischen Form und Material; vielmehr gehen in der radikalen konkreten Kunst Form (ldee) und Material insoweit eine untrennbare Einheit ein, als sich die Form als Eigenschaft des Materials und das Material als Konkretion der Form erweisen. Werke der konkreten Kunst entziehen sich daher der wiedererkennenden, auf der Anwendung von Begriffen beruhenden Wahrnehmung. Denn sie denotieren nichts, was außerhalb ihrer präzisierbar wäre. Werke der konkreten Kunst verlangten stattdessen eine sozusagen begriffslose Reflexion und gewinnen imaginativen Wert in dem Maße, wie es dem Betrachter gelingt, diese — als Erfahrung als solche — immer wieder neu zu realisieren.

IV

Granit ist ein Material, das sehr hart und zugleich spröde ist. Beide Eigenschaften machen es schwer, Granit zu bearbeiten: Die große Härte des Materials zwingt zu hohem Kraftaufwand bei der Bearbeitung, der hohe Kraftaufwand schließt aufgrund der Sprödigkeit des Materials jedoch immer die Gefahr ein, daß das in Angriff genommene Stück bei der Bearbeitung zerbirst.

Die Form der Plastik »Kernschnitt«, einer Atelier-Arbeit von Nikolaus Gerhart aus hellem Granit, läßt von diesen Eigenschaften des Materials nichts erkennen. Sie ist eine ca. 140 cm hohe Stele, die ihrer Länge nach durchbohrt und vom Bohrloch aus zur Mitte einer Seitenfläche durchschnitten ist. Der Durchmesser der Bohrung entspricht mit ca. 4,5 cm etwa der Hälfte einer Seitenkante der Grundfläche der Stele, so daß ihre innere Wandstärke zur Mitte ihrer Seitenfläche hin auf ca. nur 2 cm abnimmt. Bemerkenswert an der ansonsten vollkommen regelmäßig und exakt gearbeiteten Plastik sind allerdings drei irritierende Stellen: ein ca. 3 mm hoher Grat entlang einer ihrer Längskanten und die Bohrlöcher in den Grundflächen, die keine exakten Kanten haben, sondern etwas ausgebrochen sind.

Eine Betrachtung, die auf inhaltliche Bedeutung oder formalästhetischen Reiz aus ist, kann Gerharts Plastik nichts abgewinnen. Denn sie bedeutet offensichtlich nichts und erscheint als Form banal und willkürlich zugleich. Dennoch ist sie erklärungsbedürftig, und zwar deshalb, weil an den bezeichneten drei Stellen die exakte Formgebung nicht durchgehalten ist. Ist man zunächst versucht, jene drei Unregelmäßigkeiten als Ausdruck künstlerischer Subjektivität zu werten, durch die das ansonsten anscheinend austauschbare Stück individuiert wird, so gelingt dies in dem Maße nicht, wie man erkennt, daß es sich bei diesen Stellen nicht um subjektive Setzungen, sondern um regelmäßige Abweichungen von der Grundform, um Arbeitsspuren handelt. Zumindest an den ausgebrochenen Bohrlöchern in den Grundflächen der Stele muß man Arbeitsspuren erkennen, die offenbar bei der Bohrung entstanden.

Mit dieser Erfahrung zeigt sich Gerharts Plastik allerdings in einem anderen Licht. Denn angesichts der ausgebrochenen Bohrlöcher, die deutlich auf die Intensität der Bearbeitung und die Sprödigkeit des Materials verweisen, wird die Form der Arbeit weniger wichtig als die Frage, wie sie überhaupt hergestellt wurde: genauer, wie eine derart weite Bohrung der Stele realisiert werden konnte, ohne daß sie dabei zerplatzte. Angesichts der Arbeitsspuren ergibt sich für die Plastik »Kernschnitt« mithin eine Diskrepanz zwischen den erkennbaren Eigenschaften des Materials und der Form, in die es gebracht ist, beziehungsweise eine Diskrepanz zwischen der Existenz der Plastik als Material in dieser Form und den daraus nicht erschließbaren Bedingungen ihrer Existenz: den Modalitäten ihrer Herstellung. Anhand der Arbeitsspuren läßt sich allerdings erkennen, daß die Herstellung der Plastik höchsten Kraftaufwand erforderte, der — und genau da entzieht sich die Plastik als Form dem Vorgewußten — nur bei entsprechend großen Massen kontrolliert und gezielt, zum Beispiel als Durchbohrung eingesetzt werden kann.

Es ist vor allem diese Diskrepanz, die an der Plastik »Kernschnitt« interessiert: Weil sich in ihr eben kein artistisches Problem manifestiert, sondern — im Gegenteil — sich an ihr als Material ein Produktionsprozeß erkennen lobt, den sie als Form nicht bestätigt, wird sie zum Gegenstand der Imagination. Anlaß für die Imagination kann nicht die äußere Form der Plastik sein, sondern nur die Bohrung. In ihr als unter höchstem Kraftaufwand realisierter Hohlform hat jene nur vorstellbare große Masse Granit ihr Äquivalent, die Voraussetzung für ihre Realisierung war: Indem sie vorgestellt wird, wird der Kraftaufwand vorstellbar, der zur Herstellung der Bohrung notwendig war. Gleichsam als materieller Ansatzpunkt und Bestätigung für diese Imagination fungiert der schmale Grat entlang einer der Seitenkanten der Stele. Er ist ebenfalls eine Arbeitsspur und weist als solche darauf hin, daß die Plastik nicht aus einem größeren Stück gehauen, sondern ausgehend von der Bohrung als Hohlform mittels eines Seiles ausgesägt wurde.

Besteht die für den Beschauer nicht auflösbare Diskrepanz der Plastik »Kernschnitt« darin, daß sie als Material einen Produktionsprozeß erkennen lobt, den sie als Form nicht bestätigt, so ist in HAWOLIs Plastik »Walze II«, ebenfalls in diesem Jahr entstanden, eine Diskrepanz thematisch, die auf der Umkehrung dieses Verhältnisses beruht: sie legt als Form einen Produktionsprozeß fest, den sie als Material nicht bestätigt. HAWOLIs Plastik »Walze II« besteht aus einer ellipsenförmigen, leicht konkaven und in der Mitte der Krümmung glattgeschliffenen Granitplatte (ca. 200 x 118 x 20 cm), auf der sich ein ca. 20 cm dickes, die Breite der Platte eben überragendes Rundeisen bewegen läßt; stößt man das Rundeisen an, so rollt es im glatten und konkaven Plattenteil hin und her und kommt in der Plattenmitte, am tiefsten Punkt der Krümmung zur Ruhe. Die Plastik »Walze II« stellt mithin nicht nur als Form einen Funktionszusammenhang zwischen zwei Materialien, dem Rundeisen und der Granitplatte, vor Augen, sondern läßt ihn — gleichsam als Beweis für die Form — auch als Aktionsverhältnis erfahren. Daß man dennoch nicht glaubt, was man sieht, ist das, was an dieser Plastik interessiert.

Unglaubwürdig an dieser Plastik sind nicht der Stein, das Rundeisen oder gar der Funktionszusammenhang, in dem diese beiden Materialien miteinander stehen — wer wollte schon abstreiten, daß sich eine solche Konstellation ergeben kann. Unglaubwürdig ist die Plastik vielmehr allein als diese bestimmte Konstellation, als Auswirkung eines Funktionszusammenhangs von Materialien, deren Form vorgibt, nur so und nicht anders bestehen zu können. Anders gesagt: Die Plastik »Walze II« gibt Anlaß zu Zweifeln nicht, weil sie eine unwahrscheinliche Auswirkung von Materialien aufeinander vorstellt, sondern weil ihre Form jeden Zweifel über die Auswirkung der Materialien aufeinander ausschließt: Die Plastik ist zwar die Realisation der Vorstellung, daß Eisen unter bestimmten Bedingungen auch ein so hartes Material wie Granit verformen kann, in Eisen und Granit, doch nicht durch Eisen und Granit, und läßt daher keine Diskrepanz zwischen dem, was man weiß, und dem, was man sieht, aufkommen. Eben dies, daß bei HAWOLIs »Walze II« Vorstellung und ihre Konkretion gewissermaßen in eins fallen und damit für die konkrete Erfahrung kein Platz bleibt, löst jene Irritation aus, die sich beim Betrachter einstellt: Indem sie seine Vorstellung über den Wirkungszusammenhang von bestimmten Materialien unter Ausschaltung der konkreten Erfahrung, sozusagen »rein« inszeniert, stellt sie sie in Frage.

V

Mit den vorstehenden Äußerungen, die anhand jeweils einer Arbeit die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen von Nikolaus Gerhart und HAWOLI anzudeuten versuchten, mag deutlich geworden sein, daß von ihnen unterschiedliche Ansätze im Umgang mit dem Thema »Gegen-Steine« zu erwarten sind. Für beide Künstler stellt sich allerdings als gleiches Problem, ihre im Atelier gewonnenen Erfahrungen mit der Natur der Steine in die landschaftliche Dimension und die Landschaft zu übertragen.

Nikolaus Gerhart realisierte seine Arbeit »Einschnitt« an einer Straße, die eine relativ weite Ebene zwischen Neuenkirchen und Brochdorf zerteilt: Entlang der Straße baute er eine ca. 45 Meter lange »Mauer« aus Findlingen auf, der er einen ca. 2 cm breiten und ebenso langen Einschnitt in den Asphalt der Straße konfrontierte, und zwar so, daß Straße, Findlingsmauer und Einschnitt in die Straße exakt parallel zueinander verlaufen und überdies der Abstand zwischen der Mauer und dem Einschnitt der Straßenbreite entspricht, der Einschnitt in die Straße also nicht in ihrer Mitte verläuft.

Eine Mauer entlang einer Straße, sei sie aus Findlingen, Ziegeln oder Beton gebaut, hat, das ist eine Alltagserfahrung, auf die Straße und die, die sie benutzen, in der Regel keinerlei bedrohliche Wirkung: sie trennt den Straßenraum von den angrenzenden Gründen und schafft, das ist wohl ihre Hauptfunktion, Ordnung. Von Gerharts »Mauer« aus Findlingen ließe sich kaum mehr sagen, wäre sie nicht von jenem Einschnitt in die Straße begleitet und konfrontiert, der sie in Form und Verlauf in den Raum überträgt, der von ihr ausgegrenzt wird: Als Straßenbenutzer kommt man nicht umhin, die Parallelität zwischen der Steinreihe und dem Einschnitt in die Straße wahrzunehmen und sich zu ihr zu verhalten; sei es, daß man die andere Straßenseite benutzt und außerhalb der Parallelisierung sich ihr konfrontiert fühlt; sei es, daß man zwischen Einschnitt und Steinreihe geht und ihre Parallelität empfindend sich aus der Straßensituation ausgegrenzt fühlt; sei es, daß man die Arbeit aus der Distanz wahrnimmt; wie auch immer, die »Mauer« aus Findlingen und der Einschnitt in die Straße markieren einen Einschnitt in die Landschaft, dem man sich nicht entziehen kann.

Es charakterisiert die Arbeitsweise von Nikolous Gerhart, daß sie mit den einfachsten Mitteln auch in der Landschaft sparsam umgeht. Hätte sich in der Gegend um Neuenkirchen eine passende Mauer entlang einer Straße gefunden und wäre es erlaubt gewesen, so hätte sich Gerhart wahrscheinlich mit dem Schnitt in die Straße zufrieden gegeben. Damit sei gesagt: »Gegen-Steine« wird hier zwar als konkretes Verhältnis zu Steinen aufgefaßt, als Verhältnis zu Steinen, die einen im Wortsinne aus der Bahn werfen können, doch zugleich auch als ein allgemeingültiges Verhältnis, das sich beispielsweise konkretisiert, wo man — in dieser Arbeit durch den Einschnitt realisiert und sichtbar gemacht — sich anhand von Steinen orientiert. HAWOLIs Außenarbeit »Walze« ist demgegenüber eine Auseinandersetzung mit bestimmten Steinen in einer bestimmten Situation: Er suchte sich eine besondere landschaftliche Situation in der Nähe von Neuenkirchen aus, ein brachliegendes dreieckiges Feld, das von einem Bach, einem Graben und einem Weg begrenzt wird. An der Basis dieses Dreiecks plazierte er sechs große Findlinge so, daß sie wie aufgerichtete Schilde wirken. Ihnen konfrontiert er ein industrielles, an landwirtschaftliche Maschinen erinnerndes Produkt, eine Walze aus Eisen, die in der Mitte des Feldes liegt. Inszeniert wird damit eine Konfrontation gegen Steine, die je nachdem, welchen Standort der Beschauer einnimmt, unterschiedliche Bedeutung annimmt: Steht man an der Brücke, so erscheint die Arbeit als Konfrontation zwischen Technik und Natur, bei der sich die Gewißheit einstellt, daß die Technik in dieser Auseinandersetzung obsiegen wird; steht man vor den Steinen mit Blick auf die Walze, spürt man zwar die Aggression, die von dem technischen Produkt ausgeht, doch auch die Kraft der Steine und bleibt insoweit offen, ob die Technik in der Tat obsiegen kann. Wie auch immer gesehen: HAWOLIs Arbeit stellt ein sozusagen totes Verhältnis zwischen Natur und Technik vor Augen, gleichsam den Endpunkt eines instrumentalen Umgangs mit der Natur, und fordert damit auf, ein anderes Verhältnis zur Natur zu entwickeln.

Valerij Bugrov – Himmel und Erde (1991/2000)

Valerij Bugrov, geb. 1949 in Moskau, lebt in St. Petersburg.

Als makelloser, kreisrunder Spiegel mit 16 Metern Durchmesser liegt »Himmel und Erde« inmitten der Felder. Ein schulterbreiter begehbarer Einschnitt führt leicht abfallend zum Mittelpunkt der reflektierenden Fläche. Hier, in der Erde stehend, über das Feld in die Weite schauend, erlebt man das Wechselspiel zwischen realem Himmel und widergespiegeltem Himmelsbild. Gleißendes Licht, dahinziehende Wolken und prasselnder Regen erzeugen den ständigen Wechsel der Erscheinung des Spiegels.
Der Betrachter erlebt sich und sein eigenes Spiegelbild in einer irritierenden Situation des Dazwischen, in der die vertrauten Abgrenzungen von Luft und Erde, Oben und Unten, Standfestigkeit und Schwerelosigkeit, Materialität und Immaterialität fragwürdig werden.

Text von D. Wittkuhn

Katalog: Valerij Bugrov. Himmel und Erde. Text: D. Wittkuhn, 1991 (2. Aufl. 2000), 56 S. € 10 / Mitgl. € 7,50

Symposion – Zwei Steine sind nie gleich (1978)

Das Ausstellungskonzept knüpfte eng an das des Vorjahres an, allerdings sollte diesmal stärker eine Ambivalenz von vorgefundenen Landschaftselementen und künstlerischem Dazutun thematisiert werden. Weiter präzisiert wurde das Verständnis von Landschaft als gestaltetem, von Menschen und ihrer Arbeit geprägtem Kulturraum. Im Ergebnis orientierten die Künstler sich stark an traditionellen bäuerlichen Arbeitsverfahren wie graben, sammeln, pflanzen, lagern und bauen.

Die Spannung von HAWOLI, die Steinlawine von Mic Enneper und der Egozentrischen Steinkreis von Timm Ulrichs sind bis heute erhalten. Besonders bei den letzten beiden Arbeiten lassen sich heute die Veränderungsprozesse durch Witterungseinflüsse und Vegetation ablesen.
Der Aufgebäumte Stamm von Jan Meyer-Rogge entstand im selben Jahr für ein Symposion am Ufer der Weser in Bremen und wurde anschließend auf einer Heidefläche bei Neuenkirchen aufgestellt.

Text zum Symposion von A. Vowinckel