Jahr 1981
Titel Windberg
Künstler Jean Clareboudt
Autor Peter M. Bode
Was ist der »Windberg«: Eisen-Sonne, Opfer-Schale, Stein-Kreis, Saturn-Ring, Land-Marke, Erd-Zeichen, Sternen-Linse, Brenn-Punkt, Empfänger und Sender fremder Signale? Einstieg zum Kern der Welt? Ein Ort der Kraft! Aber kein Platz der Macht, jedoch eine Stätte für Erinnerung und Merk-Mal für Voraus-Schau.
Jean Clareboudts Werk auf einem runden Moränenhügel in der Heide hat eine atemerweiternde Präsenz und focussiert unsere Phantasie in Richtung einst geübter Rituale und Verhaltensweisen, die mit der Einbindung der menschlichen Existenz in kosmische Zusammenhänge zu tun haben. Die Windberg-Plastik ist so merkwürdig monumental und zugleich so selbstverständlich diesem Platz der Natur zugehörig, daß man sie annimmt und in sich aufnimmt wie ein zeitlos aus den Frühschichten des eigenen Vorbewußtseins in die Gegenwart hineinragendes Instrument der Vergewisserung und Beobachtung.
Man ahnt, daß dieses ebenso lapidare wie komplexe Environment nicht nur die formale Erfindung eines kunstschaffenden Individuums ist, sondern auch verschüttete (doch aus dem Innersten nach abrufbare) gemeinsame kulturelle Erfahrungen wieder sichtbar macht: Mächtige Steinbrocken, zur Kreis-Plattform geschichtet und geordnet, markieren die ausgewählte Stelle aIs »heiligen« Bezirk (heute setzen wir für die grenzüberschreitende Sehnsucht und irrationale Empfindungen den Begriff »Kunst«; früher hingegen waren Ritus und Kunst noch nicht getrennt).
Die schlechthin vollkommene Figur des Kreises hebt den »Ort der Handlung« aus der vegetativen Vielfalt der Umgebung heraus. Ein Kunst-Werk als Setzung gegenüber der Natur, obwohl die Steine selbst und ihre unregelmäßige Gestalt ein Teil der Natur sind. Aber die geometrische Abstraktion erfüllt den Roh-Stoff mit Geist und Absicht. Die Augen-Scheibe hat ihre Altar-Terrasse. Einen halben Meter über dem Erdboden beginnt die andere Ebene.
Man ist abgehoben. Doch die Füße verspüren den rauhen Grund und die übrigen Sinne die Unendlichkeit einer steinernen Wüste im Umkreis von fünfzehn Metern, mit Horizont. Das Geröll wird zum prägenden Landschafts-Stempel. In der Mitte das in Erwartung geneigte Dach, der glatte stählerne Diskus mit der zentrischen Lichtöffnung. Drei riesige Findlinge stützen die rostbraune, viele Tonnen schwere Ringplatte, die unsere Aufmerksamkeit aufsaugt. Darunter die Ur-Höhle, die — wäre sie völlig geschlossen — den Grundriß eines gleichschenkligen Dreiecks hätte.
Bin ich im Mittelpunkt der Anlage, wird mein Gesichtsfeld von der Metall-Scheibe (Durchmesser: fünf Meter, Innenöffnung: eineinhalb Meter) diagonal geschnitten: Nach Süden gewendet, überblickt der einbezogene »Teilnehmer« an Clareboudts plastischer Raum/Zeit-Bestimmung das Land, wobei der Vordergrund durch die Scheibe abgedeckt ist, während er in umgekehrter Orientierung zwischen den Megalithen hindurch in die Ferne schaut. Der visuelle Maßstab wird jedesmal umgepolt: von abwärts gelenkter Nah-Sicht zu ansteigender Weit-Sicht.
Mit Sicherheit werden unsere Nachfahren, wenn das Werk Jahrhunderte überdauert, womit sein Autor rechnet, über den Sinn dieser Erscheinung rätseln. So wie wir die Bedeutung der Osterinsel-Skulpturen und der Erd-Linien auf der peruanischen Hochebene von Nazca zu entziffern versuchen. Was aber bringt das? Das Werk erklärt sich aus sich selbst. Weitergehende Interpretationen und sich aufdrängende Assoziationen, mit denen ich diesen Text beginne, sind allemal schlüssig oder unschlüssig. Das sind sozusagen die Nebenwirkungen, vielleicht sogar erwünschte.
Die Hauptwirkung der Plastik ergibt sich aus ihrem So-Sein und Hier-Sein. Denn sie ist schön und erhaben: auch nach den Regeln der Ästhetik, die Qualitäten und Quantitäten ins Verhältnis setzt. Da werden Spannungen und Paradoxien, Entsprechungen und Harmonien erkennbar: Der Reiz der scheinbar im Gleiten begriffenen Scheibe; die Perfektion des Kreises; der Gegensatz der beiden Materialien und Beschaffenheiten: Stahl und seine Bearbeitung als Inbegriff des Zeitgenössischen — und Steine als Ausdruck des Unveränderlichen.
Das dichte Feld der Felsen verkörpert im ganzen Ruhe und im einzelnen Bewegung. Das Loch in der Scheibe verdoppelt die Idee und Magie des Kreises. Kein Schatten berührt das Gebilde. Ein Observatorium der Stille. Ein Zentrum der Kontemplation.
Nur das Durcheinander einer nicht so weit entfernten Häuser-Reihe stört zur Zeit noch die absolute Übereinstimmung von Ort und Kunst, die selbst zum Ort wird. Doch welche Lebensspanne haben diese Häuser? In der Bretagne und auf Korsika künden immer noch »Dolmen« und »Menhire« von einer alten Kultur. Jedoch die Häuser von damals sind vergessen. Und in Stonehenge verblüfft immer noch die astronomische Präzision des wundersamen Steinsäulen-Zirkels. Aber für die Wohnungen der einstigen Menschen gibt es keine Zeugnisse mehr Die Produkte für den unmittelbaren Zweck sind vergangen, nur die Denkmäler übergreifender Zielsetzungen haben längeren Bestand.
Denn solche Art von Kunst hat die Aufgabe, die Epochen zu verklammern, indem sie Spuren, die zu allen Zeiten Schwingungen im Menschen auslösen, hinterläßt. Die Pyramiden am Nil haben uns von jeher erregt. Auch sie weisen über die direkten Bedürfnisse weit hinaus. Unabhängig vom Überlebenskampf symbolisieren sie die andere Seite unserer Natur, deren Nahrung die Kunst ist. Kühn sind jene Bauten, weil sie unsere sonstige Erdenschwere und Beklommenheit schrankenlos transzendieren.
Nun hat freilich das Monument des Jean Clareboudt äußerlich nichts mit den ägyptischen Pyramiden zu tun: Es dient keinem toten Herrscher als Ewigkeits-Hintergrund, und es bedurfte zu seiner Errichtung auch keiner Sklaven-Heere. Aber im Wollen, in der Haltung, im Anspruch, da gibt es durchaus Ähnlichkeiten, denn Clareboudt besetzt einen Punkt der Erde ausschließlich mit seiner Vorstellung und Vision und deren Realisation. Sein Werk ist im wahrsten Sinne des Wortes unverrückbar:
Es ist ein trigonometrischer Fixpunkt der Welt — und kein Museumsstück, kein Beitrag zur Landschaftsverschönerung und kein Artefakt für Sammler oder Kommunen. Es hat keinen Preis, obwohl seine Herstellung teuer war, und sein Wert ist nicht zu taxieren. Es gehört allen und vermag auch noch im verschlossensten Betrachter eine Regung hervorzurufen. Das Archetypische dieser Arbeit rührt uns an.
Clareboudt bezeichnet seine Schöpfung auch als »Horch-Tisch«: Hagelschlag kann auf der Platte dröhnen, an den Steinspitzen zerplatzen. Wind rauscht durch die Öffnungen und Klänge vermischen sich mit dem wechselnden Licht. Der Mond steht nach achtundzwanzig Tagen über seinem Spiegelbild und hat einen Hof, so wie die Scheibe ihren Stein-Kreis. Auch könnte ich mir Feuer und Rauch vorstellen, die von Zeit zu Zeit aus der Mitte aufsteigen. Und Blitze, die ins Eisen fahren und einen Regenbogen, der einen noch viel größeren Kreis über allem wölbt.
Der »Windberg« zieht die Elemente auf sich und bündelt ihre Energie. Das ist der wahre »Sonnen-Kollektor« und ein Hitze-Schild, eine Nebel-Säge, ein Schnee-Herd, ein Eis-Rad, ein Wall gegen ländliche Unordnung und ein Startplatz für extraterrestrische Höhenflüge, die ihren Antriebs-Schub aus den geheimsten Vorratskammern der Seele beziehen.
Welch Abstand zwischen diesem vielschichtigen und gleichwohl sinnfälligen Beispiel eines neuen Bild-Werkes mit alten Wurzeln — und dem Übermaß an Bildern in dieser Zeit, die Gesehenes nur wiedergeben, die also Wahrheiten lediglich reproduzieren, anstatt sie wirklich ding-fest zu machen, wie das Jean Clareboudt auf und mit dem Windberg getan hat.
Auch wer den Bann-Kreis auf der Heide-Anhöhe längst wieder verlassen hat, bewahrt im Kopf und im Herzen ein anhaltendes Gefühl, das von dieser großen, einfachen und umspannenden Geste — eingeschrieben ins Antlitz der Erde — als starker Impuls ausgeht. Man kann und will sich nicht entziehen.