Frank Barth – Tragik der Allmende

Jahr 1995
Titel Hörstein
Künstler Ulrich Eller
Autor Frank Barth

Die klassischen Hauptsätze der Thermodynamik, vereinfacht:

1. Du kannst nicht gewinnen.
2. Du kannst nicht unentschieden spielen.
3. Du kannst das Spiel nicht verlassen.
Anonym

Tragik der Allmende

Kunstwerke werden gern metaphorisch als Fenster umschrieben, die den Blick in eine ,andere Welt‘ ermöglichen oder, zeitgemäßer, als Fenster, gar Tore, in die ,Wirklichkeit‘. Die Wahrnehmung sollen sie erweitern hin auf das bisher ,Ungesehene‘ und ,Ungehörte‘.1 Mir scheint die Metapher vom Kunstwerk als Spiegel allerdings treffender: Wie sich darin das Subjekt in der selektierenden und kombinierenden Arbeit seines Nervensystems mit den Sinnesdaten erkennt, und wie sich der ,Spiegel‘ durch diese Arbeit permanent aufs Neue — Phönix aus der Asche — als Werk erst manifestiert. Vom ,Was sieht? Was hört? Was riecht? Was schmeckt? Was fühlt?‘ zum ,Wie bewußt konstituiere ich meine Wirklichkeit?‘ Eine Frage, die auf den ,Schrecken der Situation‘ zielt. Es bleibt immer ein bißchen wie im Märchen vom Hasen und Igel: „lck bün all dor!“

Das Bild der Heidelandschaft um Lüneburg, das vielbesungene ,wunderschöne Land‘, gehört zum typischen Inventar der deutschen Kollektivseele, und es ist so widersprüchlich wie diese. Für Harmonie, Genügsamkeit und Ursprüngliches stehend, verdankt es sich doch dem Ergebnis eines rücksichtslosen vorindustriellen Raubbaus, der vor ca. 1000 Jahren betrieben wurde, um den Bedarf an Holz für den Salinenbetrieb in Lüneburg und den aufblühenden Schiffbau zu decken. Damit einher ging die Überweidung des gemeinschaftlich genutzten Grund und Bodens, auf dem sich dann Steppenpflanzen ausbreiteten, die fortan das Gepräge dieser neu entstandenen Kulturlandschaft bestimmten.

„Heute ist der Begriff ,Lüneburger Heide‘ eine feste Vorstellung für den Fremdenverkehr“?2 und als Postkarten-ldylle millionenfach verbreitet. Wer hier seine Freizeit verbringen will, hat klar umrissene Erwartungen, und er beansprucht deren Einlösung. So soll es sein: Fauna und Flora befinden sich in seliger ökologischer Balance, lila blüht die Erika, die Biene summt, der Käfer brummt, die Lerche tiriliert, der Heidschnuckbraten schmeckt.

Welche Resonanzen wird dieses pittoreske Konglomerat wohl zeitigen, wenn Ulrich Eller die Plausibilität eines faksimilierten Artefaktes im Rahmen einer präzise kalkulierten künstlerischen Intervention gegen das klischeebestärkte Vertrauen auf die Authentizität des Vorgefundenen dissonant ausspielt?

In der Nähe eines regionaltypischen Schäferhofes und in Sichtweite der Stallung einer Heidschnuckherde soll nicht weit vom Wege, am Saum einer lichten Baumgruppe, ein Findling plaziert werden: Ein Monolith in Gestalt des Decksteins eines Dolmen von ca. 10 to. Gewicht und einem Volumen von ca. 3,5 qbm. Der gelbbraune Granitblock ist länger als breit und breiter als hoch. Sein Fundort liegt im glazialen Aufschüttungsgebiet nördlich von Bad Segeberg. Der Stein wurde aufgrund seiner Färbung sowie der skulpturalen Komplexität seiner Form ausgewählt. Darin sind die Konturen der Bruchkanten noch unter der Politur der Oberfläche durch den Gletscherschliff erkennbar. Sie gibt uns vage Auskunft über die lange Reise durch die Wechselfälle der erdgeschichtlichen Epochen und die unterschiedlichen, in ihnen wirksamen Gestaltkräfte: Aus dem Feuer durch das Eis unter die Hände des Menschen.

Horizontal wird der Findling aufgesägt, mit größter Sorgfalt, damit das Oberteil zum Unterteil paßgenau sich wieder fügen kann. Vom Zentrum der Schnittfläche des Unterteils aus werden sodann senkrecht ein Konus und radial auf diesen zulaufende Rillen ausgefräst. Die Geräusche dieser Tätigkeiten werden von Ulrich Eller.aufgezeichnet, elektronisch bearbeitet, mit anderen Alltagsgeräuschen zu einer Klangkomposition — den „Verweisungsklängen“3 — abgemischt und auf EPROM, einem als integrierte Schaltung ausgeführten Datenspeicher, gesichert. Vor Ort werden in den ausgefrästen Konus Speziallautsprecher eingebaut, deren Kabel unterirdisch zu einem der Schäferhofgebäude führen, das Eprom-Chips, Digital-Analog Wandler, Sequenzer der Klangdaten und die nötigen Verstärker beherbergt. Am zusammengefügten Findling wird nur noch der dünne waagerecht-äquatorial verlaufende Spalt auf seine Verwandlung in ein Artefakt verweisen. Er wird fortan das Zentrum eines Geflechtes wechselseitiger Bezüge aus visuellen und auditiven Elementen bilden und die mannigfaltige Dialektik von Künstlichem und Natürlichem anklingen lassen.

Das scheinbar kontrovers gerichtete emotionale und gedankliche Assoziationspotential, welches in den einander fremden stofflichen wie nichtstofflichen Materialien und Materialgruppen kombiniert ist, bricht das sprichwörtlich stumme Schweigen des Steines. Unter den Händen des Künstlers beginnt er zu sprechen. Zum Beispiel verweist er auf die Konfrontation Hermann Löns‘ mit Bill Gates, vor allem aber darauf, wie in der Beunruhigung durch das Hören eines unerwarteten Geräusches der suchende Blick das Banale in Intensität und Bewußtheit zu transformieren vermag, bis dann — Kronos versus Kairos — mit dem erfolgreichen Abschluß dieser Suche, uns Hören und Sehen schnell wieder vergeht.4 Oder lapidar im wahrsten Sinne des Wortes gesprochen: „Alles was man wahrgenommen hat, ist auch schon verloren“. 5

Die Paradoxie jener, durch subtile raffiniert um die Wahrnehmungsschwelle der ortstypischen Geräusche oszillierenden Klänge anscheinend in Schwebe versetzten Tonnage des Monolithen, wird zumindest bei denen, welche sich unvorbereitet damit konfrontiert sehen, eine Kettenreaktion nach dem Schema ‚bemerken, wahrnehmen, erkennen, beurteilen, handeln‘ auslösen; diesen apperzeptiven Prozeß, „wodurch das Kunst- und Werkhafte erst konstituiert wird“.6

Die Sonne scheint, der Wanderer naht. Der Stein spricht in den Stimmen des Materials… Zusammen(ge)hören.

Anmerkungen

1) siehe Rötzer, Florian: Inszenierung des Unerhörten, in Ulrich Eller, Saarbrücken, Berlin, 1992.
2) Verein Schäferhof Neuenkirchen e.V: Entstehung, Aufgaben: Schäferhof, Heidschnucken, Landschaft und Heide, Neuenkirchen, 1994.
3) dazu Wulffen, Thomas: Verweisungsklänge. Zum Werk Ulrich Ellers, in Sip., Berlin, 1985.
4) „Die Erfahrung, die dieses Erlebnis vermittelt, wirft ein bezeichnendes Licht auf unser Verhältnis zur uns umgebenden akustischen Welt. Wir „hören“ eigentlich nicht. Unser akustisches Wahrnehmen besteht darin, dem, was an unser Ohr dringt, Begriffe zuzuordnen, und so das Ohr von dem akuten akustischen Eindruck zu befreien. Die Straßenbahn, die wir „hören“ ist ein Bild. Auch ein Phänomen wie die Raumakustik gehört in diesen Zusammenhang. Daß wir aus der Abweichung des Gehörten zu einer vorgestellten Norm auf eine spezifische räumliche Gegebenheit schließen, zeigt, daß das Akustische im Normalfalle dazu dient, eine »innere Saite« zum Schwingen zu bringen“. Ebbeke, Klaus: Zum akustischen Aspekt der Arbeiten Ulrich Ellers, in Ulrich Eller, Berlin. 1987.
5) Ein Militär, zitiert nach Paul Virilio, zitiert nach einer Einladungskarte der Galerie Guillaume Daeppen, Basel, 1991.
6) Lingner, Michael: Kommunikation im System Kunst, Hamburg, 1990.