Jahr 1989
Titel Der Augenblick
Künstler Claus Bury
Autor Uwe Wieczorek
Die ersten fünfzehn Stufen sind schnell überwunden, sie verlangen mir keine besondere Mühe ab. Meine Beine, leicht erschöpft vom langen Spaziergang durch das umliegende Heideland, empfinden den Aufstieg als wohltuende Veränderung des gleichförmigen Bewegungsablaufes. Vor die Entscheidung gestellt, den letzten sechs Stufen nach links oder rechts zu folgen, um auf einer der beiden sich gegenüberliegenden Sitzgelegenheiten Platz zu nehmen, gibt die Schattenseite den Ausschlag.
Als der Körper zur Ruhe kommt, bemerken die Augen, daß der erhöhte Standort nicht mit einem Blick auf die Landschaft verbunden ist. Einen Moment lang empfinde ich Enttäuschung. Das ganz aus Holz gezimmerte Gehäuse gibt allein die rechteckig umgrenzte Sicht zum Himmel frei. Dieser aber macht mich augenblicklich zum Zeugen eines wunderbaren Ereignisses: zarte Wolken verteilen sich in lautlosem Zuge vor der blauen Himmelsfolie, als setze ein von großer Hand geführter Pinsel flüchtig sie dort hin. Es müßte ein Glück sein, sie mit eigener Hand so leicht aufs Papier zu bringen. Mein Blick senkt sich — vor den Bretterwänden erscheinen nun jene Bilder, die ich während des Weges durch die Heidelandschaft in mich einfließen ließ. Ich rieche das frische Holz, höre die Geräusche der Umgebung, spüre den Rhythmus des Herzens und der Atmung. Nichts sonst passiert.
Ich kenne diese Ruhe. Oft schon bin ich ihr im Werk Claus Burys begegnet. Sie stellt einen Wesenszug vieler seiner architektonischen Skulpturen dar, resultiert aus der Homogenität der Formen, ihren Proportionen, den ihnen zugrundeliegenden Konstruktionsprinzipien, dem Werkmaterial, der inneren Bereitschaft des Menschen, Ruhe als Faktor in der Kunst zu akzeptieren, mehr noch: zu suchen. Von einer Ruhe muß gesprochen werden, die nicht Stillstand bedeutet, sondern Bewegung, physische und mentale Bewegung, welche freilich nicht in körperliche und geistige Unrast umzuschlagen gedenkt.
Unrast ist auch dort nicht spürbar, wo Bury anfänglich Wind und Gezeiten ein offenes Spiel mit beweglichen Elementen, Leinentüchern beispielsweise, gestattet, denen provisorisch anmutende Holzkonstruktionen in Skelettbauweise den eben noch erkennbaren Charakter des Skulpturalen verleihen. Bildhaft treten die frühen Werke in Erscheinung — vor einem fernen Küstenstreifen Australiens etwa 1. In diesem bildhaften „In-Erscheinung-treten“, das transitorisch gemeint ist, da Naturkräften die baldige Zerstörung des Werkes überlassen wird, hat die physische Präsenz des Menschen noch keine zwingende Erfordernis.
Noch zeigt sich Burys Arbeit in jenem Denken der sechziger und siebziger Jahre befangen, das um die Begriffe „Anti-Form“ und „Prozeß-Kunst“ kreist. Zur eigenen, unverwechselbaren Sprache findet der Künstler Anfang der achtziger Jahre, als nicht mehr das Werk selbst, oder Teile desselben, sondern der das Werk durchschreitende und ergründende Mensch in Bewegung gerät 2. Dieser tritt nun einer Form gegenüber, die nicht mehr auf die Sichtbarmachung materieller Prozeßabläufe zielt. Tektonisch stabilisiert, gleichwohl um Offenheit bemüht, verbirgt die Skulptur nicht ihre innere Struktur, ist vielmehr ein Resultat derselben und läßt daher Rückschlüsse auf sie zu. Doch gibt sie sich voll erst im Zuge ganzheitlicher Wahrnehmung zu erkennen. Der Teilnehmer ist aufgefordert, im wörtlichen und übertragenen Sinne vom Werk Besitz zu ergreifen, sich innerlich und äußerlich zu ihm in Beziehung zu setzen, die eigene Körperlichkeit zu erfassen in der Körperlichkeit der Form, den eigenen Rhythmus zu finden im Rhythmus der Struktur, das eigene Gleichgewicht auszuloten im Gleichgewicht der Teile zum Ganzen, des Ganzen zu den Teilen, dem Organischen des Werkmaterials (Bury bevorzugt weitgehend unveredeltes Holz) das Organische der eigenen Physis gegenüberzustellen, das Gemeinsame, aber auch das Trennende zwischen Ich und Kunstwerk abzuwägen, in einer individuellen, und das heißt unteilbaren Stellungnahme. Zu dieser Stellungnahme fordert Claus Bury auf, und der mit seinem Werk Befaßte erkennt schnell, daß sich der Sinn der Bewegung von Körper und Geist nicht im Unterwegs-Sein, sondern im Da-Sein des Menschen erfüllt. Nur wer mit den Sinnen und dem Verstand umfassend gegenwärtig ist, vermag mit dem Werk einen offenen, aber stillen Dialog zu führen.
Bury bietet keine beliebigen Formen an, keine, die Folge einer Laune, eines Capriccio waren. Nichts ist dem Zufall überlassen (hierin zeigt sich der tiefgreifendste Unterschied zu den frühen Prozeß-Werken), jedes Detail gehorcht einer übergeordneten Großform, die Großform wiederum gibt sich als Ergebnis einer mathematisch-geometrischen Gesetzmäßigkeit oder als Erbe eines historisch überlieferten Architekturtypus zu erkennen. Auf diesen beiden Pfeilern ruht Claus Burys Werk. Sie sind ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis und stecken den konzeptuellen Rahmen der Formentwicklung ab. Beispielhaft nenne ich drei Werke: „Fibonaccis Tempel“ (Köln, 1984), „Im Goldenen Schnitt“ (Frankfurt, 1988/89), „Stadtportal Nürnberg“ (Nürnberg 1986/89).
Der nicht mehr in situ befindliche „Fibonacci-Tempel“ macht mit einer organisch wachsenden Zahlenreihe vertraut, die, ähnlich wie Le Corbusiers „Modulor“, auf den italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci (1170-1240) zurückgeht: 1,1, 2, 3, 5, 8,13, 21 etc. Sie ist nicht realitätsfernes Konstrukt eines geistreichen Kopfes, sondern entspricht einem natürlichen Entwicklungsgesetz, das sich in mikro- und makrokosmischen Spiralformen, etwa einzelnen Schnecken oder Milchstraßensystemen aufspüren läßt. Sorgsam hat Bury die Zahlensequenzen seines „Tempels“ auf Zeichnungen notiert 3. In sämtlichen Abmessungen sind sie wirksam, betreffen Grundriß und Aufriß gleichermaßen. Selbst der mit Fibonacci nicht Vertraute spürt beim Durchschreiten und Betrachten des einem Tortenstück nicht unähnlichen skulpturalen Gebildes die in diesen Sequenzen begründete Harmonie. Sie birgt Ruhe in der Bewegung, Bewegung in der Ruhe. Der Mensch tritt, wenn er ’seinen‘ Ort im Inneren des „Tempels“ gefunden hat, an die Stelle des antiken Götterstandbildes. Doch steht nicht der anmaßende und gleichfalls antike Wahlspruch vom „Menschen als Maß aller Dinge“ dahinter. Seinen Ort im System einer ’natürlichen‘ Gesetzmäßigkeit zu finden, heißt, die Bedingtheit der eigenen Existenz zu begreifen, die Schutz bietet vor lebensbedrohlicher Hybris.
Der in Frankfurt errichteten Skulptur „Im Goldenen Schnitt“ 4 liegt eine Konstruktionsmethode zugrunde, die vielen geläufig ist — geläufiger zumindest, als Fibonaccis stetig wachsende Zahlenreihe. Sie ist, mit einer bis auf den griechischen Mathematiker Euklid (ca. 365-300 v. Chr.), ja bis auf die Pythagoreer zurückgehende Tradition, umwoben von einer nahezu mythischen Aura. Ihre Formel ist hier nicht interessant. Nur soviel sei gesagt, daß sich bei einer nach dem „Goldenen Schnitt“ unterteilten Strecke der kleinere Abschnitt zum größeren proportional so verhält, wie der größere Abschnitt zur gesamten Strecke. Italienische Künstler der Renaissance entdeckten ihn neu und trugen, indem sie ihn „golden“ nannten, zu seiner Auratisierung bei. Vor allem zur Unterteilung von Flächen diente er: auf Gemälden ebenso wie auf den Fassaden von Kirchen, Villen und Palästen. Überall dort, wo er zur Anwendung gelangte, war er Ausdruck eines über jede Zufälligkeit und Kurzlebigkeit erhabenen Harmoniebewußtseins. Bury weiß um diese Bedeutung. Neu an seiner Skulptur ist, daß sie den „Goldenen Schnitt“ nicht in seiner Anwendung auf Flächen, sondern als Form gewordene Konstruktionsmethode anschaulich macht. Erkennbar sind die Geraden und segmentalen Zirkelschläge, derer es bedarf, um jenen Punkt ausfindig zu machen, der besagte Strecke, sie verläuft hier parallel zum Erdboden, in zwei verschieden große Abschnitte unterteilt. Ein geometrisches Abstraktum konkretisiert sich zum plastischen Erlebnisraum. Der in ihm Umherschreitende begreift ihn als Medium der Auseinandersetzung und der Besinnung: der Auseinandersetzung mit dem urbanen Umfeld, auf das er kritisch Bezug nimmt; der Besinnung auf die eigene sensitive Resonanzkapazität, die im Zuge wachsender Rationalisierung der menschlichen Lebensbereiche nachhaltig zu verkümmern droht.
Im „Nürnberger Stadtportal“ 5 formiert sich ein baugeschichtlicher Archetypus. Er ist noch heute im einstigen Wirkungsbereich der Etrusker anzutreffen: die aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. stammende „Porta Augusta“ in Perugia. Bury mildert die fortifikatorische Strenge des Vorbildes, indem er die ,Landseite‘ seines eigenen Portals leicht anschrägt und die den Durchgang flankierenden Pfeiler der ,Stadtseite‘ segmental ausbuchtet. In ihnen führen Treppen zu einem quer über dem Portaldurchgang liegenden Gang, dessen Bodenfläche der Schrägstellung der ,Landseite‘ entspricht. Ein Thermenfenster schafft Öffnung zur Außenwelt.
Portal und Treppe, Durchgang und Übergang erfüllen keine praktischen Funktionen. Sie bilden, ganz im Sinne etruskischer Raumvorstellungen, denen Bury vor Ort, in Etrurien, nachgegangen ist, Metaphern eines Wechsels menschlicher Realitäts- und Bewußtseinsebenen. Der am Werk Teilnehmende fühlt und weiß sich in einem architektonischen Kontext aufgehoben, auf den nicht ohne kulturelles Elend verzichtet werden kann. Hierauf machen Burys baugeschichtliche Anleihen aufmerksam.
Es gibt Kunstwerke, die durch einen äußeren Anlaß motiviert sind und diesen erkennbar widerspiegeln. 1983 jährte sich zum hundertsten Male das Bestehen der Brooklyn-Bridge in New York, das mit einem Skulpturwettbewerb verbunden wurde. Claus Bury errichtete im New Yorker Madison Square Park eine Skulptur 6, die das Motiv des Brückeschlagens anhand eines dreikantigen Eisenträgers versinnbildlicht. Er verbindet zwei aus Holz konstruierte Pyramidalformen, welche durch eine schmale Passage voneinander getrennt sind, die der Breite eines menschlichen Körpers entspricht. Indem nun der einzelne Mensch sich in diese Passage hineinstellt, wird er selbst zu einem lebendigen Element des Brückeschlagens, das den über ihm schwebenden Eisenträger kontrapunktisch paraphrasiert.
Als direkte Auftragsarbeit präsentiert sich der 1986 im Duisburger Kant-Park installierte „Mercator“, benannt nach dem gleichnamigen niederländischen Mathematiker, Kartograph und Geograph, der 1512 in Duisburg geboren wurde. Wie ein zur Hälfte dem Erdboden entwachsener Globus, bestehend aus schräg in Szene gesetzten Schnittebenen und ,Meridianen‘, nimmt das Werk Bezug auf die Arbeit seines Namensgebers. Begehbar, wie alle Großskulpturen Burys, erlebt der Betrachter die Raumkoordinaten nicht nur als simple Anspielung auf die Schrägstellung der Erdachse. Sie sensibilisieren mit der Suche nach dem körperlichen Gleichgewicht, das es auf den schrägen Ebenen zu finden gilt, zugleich das Bewußtsein für das labile Gleichgewicht auf unserem Globus selbst, welches wir durch ignorante Sorglosigkeit gefährlich destabilisieren.
Um eine politisch-kulturelle Alternative geht es Bury mit seinem 1987 entstandenen Modell für ein „Museum für Neue Deutsche Geschichte in Berlin“ 7. In selbstbewußter, sich von fremden Grenzziehungen unbeeindruckt gebender Geste überwölbt ein brückenartiger Baukörper, der auf zwei getrennten Sockelgeschossen ruht, jene Mauer, die Berlin in einen Ost- und einen Westteil scheidet. Jedes Sockelgeschoß beherbergt, jeweils auf der ,richtigen‘ Seite der Mauer, Zeugnisse der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik, bzw. der DDR. Über den Sockelgeschossen setzt ein fensterloses, beide Sockel miteinander verbindendes Zwischengeschoß an, das die Zeit des Nationalsozialismus als letzten Abschnitt gesamtdeutscher Geschichte dokumentiert. Es fungiert zugleich als „Gedenkstätte aller Opfer des Naziterrors“. Darüber erhebt sich das treppenförmig abgestufte, von Segmentbögen überspannte Obergeschoß, in dem die deutsche Geschichte bis 1848 zurückverfolgt werden kann. Museum und deutsch-deutscher Grenzübergang — das Gebäude soll von beiden Seiten Berlins zugänglich sein — bringt Bury mit diesem Projekt die Überzeugung zum Ausdruck, daß nur das kritische Bekenntnis zu einer gemeinsamen Geschichte den Boden für grenzüberschreitende Verständigung bereitet. Burys Museums-Alternative erweist sich somit als ein Projekt konkreter Utopie, das sich der zeitgeschichtlichen Aktualität seiner Aufgabe bewußt ist.
Obwohl ich mich lediglich für einen Augenblick in dieser hölzernen Behausung aufzuhalten gedachte, habe ich nunmehr doch eine längere Zeitspanne darin verbracht. Niemand stieg zu mir herauf, um den gegenüberliegenden Platz einzunehmen. Ich hätte diesen Raum nur mit einer vertrauten Person teilen wollen, zu einem nur sie und mich betreffenden Gespräch — oder zum Schweigen. So nutzte ich das Alleinsein, um meine Gedanken zu sammeln. Mit einem letzten Blick zum Himmel steige ich die Treppen hinab, vertausche das Innen mit dem Außen, das Oben mit dem Unten. Auf dem Erdboden angelangt, über dem sich das Werk ganz unprätentios erhebt, vergegenwärtige ich mir noch einmal dessen Gestalt.
Der trapezförmige Unterbau, dessen ebenerdiger Durchgang mit den beiden anliegenden Treppenläufen ein Achsenkreuz bildet, erinnert mich entfernt an mesoamerikanische Pyramiden. Hierüber erhebt sich der archaisch anmutende, kastenartig geschnittene Oberbau, dessen Schmalseiten sich leicht nach außen neigen. Er nimmt die beiden fünfzehnstufigen Treppenläufe in sich auf, die in seinem Inneren eine kleine Plattform ergeben, von der, rechtwinklig abzweigend, je weitere sechs Stufen zu den beiden sich gegenüberliegenden Sitzbänken führen. Daß man von diesen nur in den Himmel zu blicken vermag, ist von unten nicht erkennbar. Freilich läßt sich, indem man mit Füßen die Sitzbank betritt, über den oberen Rand schauen. Doch gerade diese Möglichkeit, die vielleicht als Versuchung empfunden wird, zeigt sich als die am wenigsten angebrachte. So vermeidet der das Werk Begreifende, es zu einem Aussichtsturm zu degradieren.
Den unteren Durchgang benutzend, verlasse ich den Ort. Er ließ mich mehr als einen AUGENBLICK lang bleiben. Ich werde gerne zu ihm zurückkommen.
Anmerkungen
1) „Wave Sculpture“, 1979, Palm Beach, Sidney, Australien.
2) Vgl. „Raumverschiebung“, 1981, Dreieichpark, Offenbach, sowie „Two Elevated Walkways“, 1982, Moore College of Art Gallery, Philadelphia, P.A., U.S.A.
3) Den dort anderslautenden Zahlenfolgen, etwa 30, 60, 90, 150 und 240, unterliegt das gleiche Prinzip wie der Zahlenfolge, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 etc. Immer resultiert nämlich eine Zahl aus der Addition der beiden vorausgehenden Zahlen. In eine graphische Darstellung übertragen, ergibt sich aus der Fibonacci-Reihe eine Spirale.
4) Frankfurt am Main, Konstabler Wache, 19. 4. – 28. 5.1989.
5) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, 17 3.1989 – 7.1.1990.
6) „Bridge-Project“, 1983, Madison Square Park, New York, N.Y, U.S.A., Sammlung Jack Lenor Larsen, New York, N.Y.
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