Hans Dickel — Augenwaider

Jahr 1988
Titel Augenwaider
Künstler Horst Hellinger
Autor Hans Dickel

Horst Hellingers feuerroter Blickfang in der Heidelandschaft wirkt schon von weitem. Unübersehbar lockt die architektonische Attraktion Besucher herbei. Doch es ist nicht gleich auszumachen, was die begehbare Skulptur zu bieten hat. Beim Eintritt in das karge Gehäuse aus Eisenblech wird der Blick sofort wieder ins Freie geführt: Wer sich einem Eingang nähert, schaut hindurch in die Landschaft jenseits des Doppeltores. Das Gehäuse besteht aus zwei gleichen Passagen, die sich über einer quadratischen Grundfläche durchdringen und zu einem kreuzförmigen Bau verbinden. Die schlanken Wände sind im Fundament unter einem Pflaster aus Blaubasalt befestigt. Über die Vierung kreuzen sich die Giebeldächer der beiden Gänge.

Alle fünf Joche der Konstruktion sind gleich groß. Die klare Gliederung folgt dem „gebundenen System“ der Sakralarchitektur, das z.B. schon den schmucklosen Saalkirchen der Reichenauer Romanik zugrundeliegt und in der Kreuzung des Lang- und Querhauses von St. Michael zu Hildesheim (1010-1033) künstlerisch zu voller Geltung kommt. Zweifellos, Hellingers Eisengebilde bezieht sich auf die Tradition großer Bauformen. Die lotrecht verschweißten Blechplatten sind als Zentralbau organisiert und vermitteln in idealtypischer Knappheit die Raumerfahrungen des Übergangs von Außen und Innen.

Durch die Verwendung elementarer Grundformen ergeben sich vielfältige Analogien. So ist die hermetische Konstruktion auch in der Nachfolge der französischen Revolutionsarchitektur zu sehen. Hier sei auf das kreuzformige „Haus der Köhler“ verwiesen, das Claude Nicolas Ledoux (1736-1806) für die Idealstadt Chaux entworfen hatte: Ein schmuckloses aus Stämmen zusammengestelltes Gebäude mit vier gleichwertigen Ein- und Ausgängen. 1 Doch Hellinger plündert keinen Motivvorrat, vielmehr zeigt sich in seiner Arbeit mit einfachen Bauelementen ein geklärtes bildhauerisches Konzept.

An den Grenzen der Gattungen angesiedelt ist die Skulptur insofern Architektur, als sie dem Betrachter Handlungsformen im Raum vorgibt. Weil der Bau aber in seinen Teilen und als Ganzes bildhaft gestaltet ist, hat er den Charakter einer Skulptur. Der Widerspruch kehrt wieder im Verhältnis des Werkes zur umgebenden Landschaft: Das Doppeltor markiert einen zentralen Aussichtspunkt in einer weiten Ebene, deren eigentliche „Sehenswürdigkeit“ die Skulptur selbst darstellt.

Als Kunst in der Landschaft und Kunst mit der Landschaft ist AUGENWAIDER, so der Titel der Skulptur, auch in der Tradition der Gartenkunst des 18. Jahrhunderts zu sehen. Die Kontroversen der Theoretiker von damals werfen manch erhellendes Licht auf die heutigen Diskussionen über „Kunst im öffentlichen Raum“. Im 18. Jahrhundert schmückten die Großbürger ihre privaten Parks mit dekorativen Staffagebauten. Zum Erstaunen der überraschten Besucher standen allenthalben ephemere Kleinarchitekturen: Pavillons und Grotten, klassizistische Rundtempelchen, ägyptische Obelisken, versteckte Kuriosa, aber auch schon malerische Stimmungsrequisiten wie Köhlerhütten, Eremitagen oder künstliche Ruinen. Caspar von Voght, der in Hamburg einen englischen Landschaftsgarten, den späteren Jenisch-Park, anlegen ließ, äußerte sich polemisch gegenüber dieser Pseudokultur, denn die „Überladungen in (manchen) berühmten Parks haben ihm einen frühen Ekel für die sinnlose Zusammenstellung von griechischen Tempeln und gothischen Kirchen, chinesischen Pagoden, türkischen Bädern und Klausnerhütten beygebracht.“ Voght verzichtete in seinem Park auf diese altmodischen „batiments d’effet“, statt dessen wies er seine Gärtner an, „jeder Landschaft den Charakter abzulauschen, den die Natur ihr verlieh diesen mit sorgsam schüchterner Hand auszubilden, und dem Beschauer zu verdeutlichen“. 2 Die Landschaft selbst sollte zu bildlicher Wirkung gesteigert werden; einzeln stationierte Wegzeichen lenkten die Besucher zu den reizvollsten Ansichten. Holzhütten oder nur schlichte Sitzbänke und Gedenksteine markierten „the most picturesque views“. Dort konnte der Spaziergänger für Augenblicke der „Empfindsamkeit“ verweilen und Ausschau halten; der Gang durch den Landschaftsgarten wurde zum Gedankengang.

Eines der Tore rahmt den Blick nach Neuenkirchen und läßt ein fast klischeehaftes Motiv entstehen: Weite Getreidefelder im Vordergrund, dahinter flankierende Waldränder mit der Sicht auf das Dorf und seinen schlanken Kirchturm, der den Saum der Baumkronen und die geduckten Giebel der Häuser überragt. Doch das Doppeltor richtet den Blick der Besucher auch auf die drei anderen „gerahmten“ Motive: Gegenüber erscheint eine Ansiedlung von Bauernhöfen, an den Seiten sieht man einmal nichts als Himmel und Erde, vis a vis streift der Blick über Acker- und Weideland, das von einer Autostraße diagonal durchschnitten wird. Die vier Ansichten werden als gleichwertig dargestellt, die „romantische“ Heidelandschaft ist nur einer der möglichen Ausschnitte.

Wer sich auf die Eigengesetzlichkeit der Skulptur einläßt, wird statt der festgelegten Blickregie ein freies Roulette der Blicke erleben können.

Nur äußerlich gesehen schließt die Skulptur an die Tradition romantischer Gartengestaltung an.

Als schmuckes Gehäuse wirkt sie mit ihrer symmetrischen Gestalt und dem intensiv leuchtenden Rotanstrich anziehend auf die Wanderer. Wer aus dem weiten Gelände kommend das Werk betritt, wird dann plötzlich in die Enge geführt. Hellingers Artefakt führt nach Innen, es fordert förmlich Konzentration. Doch von dem leeren Mittelpunkt aus geht der Blick gleich nach vier Seiten zurück ins Freie. Ein derart komprimiertes Landschaftserlebnis wird nur dann vermittelt, wenn man die architektonische Skulptur als solche wahrnimmt. Wer das schmale, hohe Doppeltor von Innen erlebt hat, wird die Weite der umgebenden Landschaft anders, vielleicht als Befreiung, empfinden. Umgekehrt scheint sich der Außenraum beim Eintritt in die überdachten Gänge schleusenartig zu verdichten, gleich einer Linse scheint das Gehäuse Elemente der Landschaft zu versammeln. Es bildet sich ein Zentrum in Menschengröße, von dem aus der Besucher wie mit einem Kompaß ferne Orte anvisieren kann. Achtet man auf die skulpturalen Qualitäten von AUGENWAIDER, so sind ähnliche Gegensätze zu entdecken. Von Außen, von den Ecken her gesehen, erscheint das prägnant kreuzförmige Werk völlig verschlossen. Geht man weiter zu einer der Toröffnungen, so gibt sie eine Durchsicht in die Heidelandschaft frei. Und von Innen wirkt der Bau sogar wie ein optisches Instrument, das vier Blickrichtungen akzentuiert. So bietet die Skulptur ein ganzes Spektakel von Ansichten, von Einblicken und Durchblicken. Dabei kann sich für die Besucher als kommunikatives Moment gelegentlich die reizvolle Situation des überraschten Voyeurs ergeben — Sehen und gesehen werden.

Grundelement des Tores ist die Tür, ein Modul, das der Künstler schon in früheren Werken verwendet hat. Es bestimmt nicht nur die Abmessungen der beiden Gänge, nicht nur den umbauten Raum, sondern auch die Positivformen der acht gleichmäßig zugeschnittenen Wandteile des Werkes. Türen sind proportional auf den Betrachter bezogen und bringen neben der menschlichen Dimension auch erzählerische Komponenten mit ins Werk. Die Rechteckform begegnet vor der Neuenkirchener Skulptur AUGENWAIDER schon in drei früheren Arbeiten von Horst Hellinger, in einer Platzgestaltung, einer vor Ort bearbeiteten Tür und in einem Denkmal aus Türen. Hellingers Hamburger „Sanierungsspirale“ (1981) versammelte die Wohnungstüren eines sanierten Häuserblocks. Funktional und formal verfremdet (aus den Schwellen wurden Wände), hatten sich die Türen in Glieder eines labyrinthartigen Bauwerkes verwandelt. In dem Spolien-Gebilde waren neue Raumerfahrungen zwischen Innen und Außen zu machen, zugleich war ein gemeinsames Denkmal der Sanierungsbetroffenen entstanden, eine Einheit im Innenhof. Diesem Sinnbild aus Fragmenten korrespondierte im Hamburger Künstlerhaus eine vom Künstler überarbeitete Luftschutztür (1981). Sie sollte einmal vor den verheerenden Wirkungen der Splitter- und Sprengbomben einen Minimalschutz bieten, zumindest Menschenleben retten und Sachwerte schützen. Während der Auseinandersetzung um die Neutronenbomben, die zwar Sachwerte verschonen, aber Menschen durch ihre immense Strahlungsintensität vernichten, sah sich Hellinger veranlaßt, auf diesen hemmungslosen Zynismus der Naturwissenschaft zu reagieren: „Meinem Beruf gemäß wollte ich ein Zeichen setzten für die Zeit in der ich lebe.“ Das funktionslos gewordene Requisit aus dem Zweiten Weltkrieg wurde mit dem Schneidbrenner bearbeitet, an den Rändern der ausgeschnittenen Formen blieben Farbablagerungen zurück. Klaffende Wunden durchlöchern nun die Stahltür und demonstrieren ihre Funktionslosigkeit: Kein noch so starker Stahl kann die tödlichen Strahlen hindern.

Auch für eine Platzgestaltung in Hamburg-St. Georg hat der Künstler Eisenbleche im Format einer Tür benutzt. 3 Zugeschnittene Schiffsplanken mit rostender Oberfläche wurden hier als abstraktes Ensemble vor einer Kirche und neben einem Baum aufgestellt. Am Ort wecken sie vielfältige Assoziationen, an ein Schiff etwa läßt sich denken oder auch an eine Menschengruppe; und in ihrer Plazierung erinnert die Skulptur zugleich an zerstörte städtebauliche Zusammenhänge. Die mannshohen Eisenbleche wurden wie Lamellen in loser Verteilung aufgebaut und stiften inmitten der disparaten City-Architektur einen Bezugspunkt. Vielteilig und allseits offen für die Passanten eröffnet die Skulptur eine neue Sicht auf den Stadtteil. In Neuenkirchen dagegen hat Hellinger die Eisenbleche in eine festgefügte Form gebracht: Seine Skulptur stiehlt der Landschaft die Schau, um den Blick von innen erneut auf sie zu lenken.

Wirkt das Gehäuse aus der Ferne fast zeichenhaft, so spürt man von nahem die Festigkeit und Schwere des Materials. In ihrer feuerroten Lackübermalung erscheinen die aufrechten Platten seltsam leicht. Tatsächlich lasten aber dreieinhalb Tonnen auf der Plinthe in der Heide. Die sauber verschweißten Teile enden in glatten Schnittkanten, wodurch die statuarische Strenge des steilen Baukörpers noch betont wird. Hellinger hat das geometrisch geformte Gebilde besonders in der Dachzone bearbeitet. Mit einem millimeterfeinen Gasstrahl wurden längliche Schlitze und schartige Formen herausgeschnitten. Als bildliche Zeichen laden die Leerstellen zum freien Gestaltsehen ein. Irregulär geformte Gucklöcher sind entstanden, durch die man die Bewegung der Wolken beobachten kann. Doch es wurden auch Einfallslöcher für Regen und Licht geöffnet, die Wasserflecken auf den Boden und Sonnenbilder an die Innenwände projizieren. Bei bestimmten Witterungsverhältnissen, etwa im Morgendunst, erfüllen Lichtbündel die Passagen von den Seiten her. Die herausgebrannten Formen haben Lücken hinterlassen, an deren Konturen noch Klumpen geschmolzenen Eisens kleben. Auch die Lackschicht wurde bei der Arbeit in Mitleidenschaft gezogen: Die malerischen Randzonen der Einschnitte lassen fast vergessen, daß sie Spuren schwerer Materialverletzungen sind. Changierend zwischen Giftgrün und Gelb, bläulichem Grau und kränklichem Schwarz, überziehen diese Narben die ganze Skulptur. Das kompositionell streng kalkulierte und technisch präzise gebaute Werk ist von allen Seiten durchlöchert. Mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit verteilt, besetzen diese Negativ-Formen das konstruktive Äußere des symmetrischen Gehäuses. So verbindet die Skulptur Bauwerk und Bilderwand und vereint die architektonische Form-Reduktion mit einer bildhafte Vorstellungen provozierenden Formenvielfalt.

Das Formenrepertoire am Dach gibt Ausblicke in den Himmel frei und erinnert dabei selbst an astronomische Konstellationen, in denen die Phantasie so gerne figurative Sternzeichen entdeckt. Durch die Ausschnitte ist die Skulptur AUGENWAIDER so direkt zum Himmel geöffnet, daß sich das Firmament selbst darstellen kann — ein einfacher Kunstgriff, für den es ein berühmtes Vorbild gibt: Boullées Newton-Kenotaph von 1784, eine geplante Kultstätte der Aufklärung. 4 Etienne-Louis Boullée (1728-1799) hatte für den englischen Astrophysiker Sir Isaac Newton ein Denkmal in Kugelform erdacht. Im Innern des gigantischen Bauwerks sollte ein leerer Sarg stehen. An der oberen Kugelschale sollten ausgesparte Lichtlöcher zum Himmel so angeordnet werden, daß innerhalb des Kugelbaus der Eindruck eines gestirnten Himmels entsteht. Das Denkmal war konzipiert als ein säkularisierter Sakralbau des sich selbst abbildenden Universums — zum Andenken an den Naturalisten Newton, der die kosmischen Gesetze der Himmelsmechanik erkannt hatte. 5

Hellingers Ausschnitte, die zugleich Einschnitte sind, folgen keinen himmlischen Strukturgesetzen sondern künstlerischen Entscheidungen, sie sind der Naturanschauung vor Ort verpflichtet: „Schnitte verletzten scheinbar willkürlich das sorgfältig hergestellte Tor. Die Art und Weise der Eingriffe resultiert aus der umgebenden Landschaft: Strukturen, Lineaturen von Gewächsen, Figurationen der Wolken, Spiele des Sonnenlichts, die Linie eines Hügels, eines Weges könnten der Anlaß der Zeichnungen sein.“ 6 Statt ein Abbild der Natur zu geben, erzeugt das intuitiv gewonnene Formengebilde vielerlei Assoziationen und auch im wörtlichen Sinne eröffnet die Skulptur neue Ansichten der Landschaft. Die Brandlöcher im Deckenbereich lassen an die Sterne denken. Trotz der visuellen Bezüge und der vielfachen Blickführung in die Landschaft bleibt der kreuzförmige Durchgangsbau im spröden Heideland doch ein städtischer Fremdkörper. Die dominante Farbigkeit bildet im Sommer einen scharfen Komplementärkontrast mit der grünen Umgebung. Das kantige Blechgeviert auf ausgegrenztem Standplatz paßt nicht hierher — weder das Material, noch die Proportionen, noch die Gestalt sind auf die Landschaft oder sogar die Natur bezogen. Und doch entfaltet das Gehäuse seine Qualitäten nur in der Isolation auf dem Lande. Nur im Freien läßt sich die visuelle Mitteilung der Skulptur erfahren. Zwischen den Dörfern steht sie, orientierungslos inmitten von Wiesen und Getreidefeldern, und markiert doch durch ihr Dasein einen subjektiven Standort.

ANMERKUNGEN

1 ) Claude Nicolas Ledoux, L’Architecture considérée sous le rapport de l’art, des moeurs et de la législation. Paris 1804, Tafel 109. Vgl. zu diesem Komplex: Johannes Langner, Ledoux und die Fabriques. Voraussetzungen der Revolutionsarchitektur im Landschaftsgarten. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 26,1963, S. 1-34.

2) Caspar von Voght. Flottbeck in ästhetischer Ansicht, 1824, o. S.

3) Vgl. dazu: Hans Dickel, Horst Hellinger, Platzgestaltung in Hamburg St.-Georg. In: Kunst und Unterricht 120, Februar 1988, S. 52-54.

4) Adolf Max Vogt, Boullées Newton-Denkmal. Sakralbau und Kugelidee. (Schriftenreihe des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Bd. 3) Basel 1969. Boullée hat das System der vertikalen Lichtöffnungen, die ein Abbild des Himmels erzeugen, vielleicht von arabischen Bädern abgeschaut, die (zum Schutz gegen Voyeure) nur von oben Licht erhielten, und deren schmale Lichtschächte im Inneren als gezackte Himmelssterne gestaltet waren.

5) Vgl. dazu auch: Gottfried Fliedl. Architektur als zweite Natur. Bemerkungen zur Architektur von C. N. Ledoux und E. L. Boulée. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 30/31, 1977/78, S. 239-258.

6) Horst Hellinger, Exposée zur Ausstellung in Neuenkirchen, Sommer 1988.