Jahr 1991/2000
Titel Himmel und Erde
Künstler Valerij Bugrov
Autor Detlef Wittkuhn
Bugrovs Speculum mundi
Valerij Bugrov schreitet den Platz für seinen Spiegel, ein Stück wilden Grases zwischen Feldern, ab, sechzehn Schritte, achtzehn, fünfzehn, wieder sechzehn, er legt Steine als Markierung. Die Ausdehnung der Fläche ist gefunden. In der Mitte, bei acht Metern, breitet Bugrov die Arme aus, umfaßt das Kunstwerk: Die stereometrische Figur eines kugelförmigen Raums nimmt ihre fiktive Gestalt an.
In der Weite der Landschaft, unter der Höhe des Himmels, mit den Füßen auf der Erde, im Geist auf einer den Himmel reflektierenden Scheibe stehend, bemaß Bugrov ein Speculum mundi, einen Spiegel der Welt. Die Gewißheit der Proportionen, die Überzeugung, wie groß die Fläche sein muß, in welchem Verhältnis Leib, Kreisfläche und imaginierter Raum Harmonie erreichen, kam intuitiv zustande. Die vom Kunstwerk erhoffte katoptrische Erlebnisform von Orientierungsverlust und gleichzeitiger räumlicher Vergewisserung verdankt sich keiner „göttlicheren“ Maßeinheit als dem Körper des Menschen.
Vom Feldweg kaum zu sehen, schneidet der Spiegel ein Loch in den Boden. Eine immerglatte Fläche, um die herum alles wächst und wieder vergeht. Die Abmessungen des Spiegels bleiben nüchtern, ein Kreisrund von 16 Metern Durchmesser, über 200 Quadratmeter. Steht man davor, beeindruckt das Volumen. Der Spiegel behauptet eine imponierende Präsenz, er beherrscht die empfundene Räumlichkeit. Und doch ist er den landschaftlichen Dimensionen zugemessen, Teil des Flachlands. Dieser Widerspruch ist konstitutiv für jeden Eindruck hier zwischen Himmel und Erde.
Wie ein Unbetretbares breitet sich die Fläche. Der Betrachter, Paria vor diesem See wie aus gefrorenem Eis, mag sich in Bewegung setzen, das zerbrechlich wirkende Material umrunden. Im rechtwinkligen Gitterwerk der Spiegelstücke bildet sich der Himmel ab. Kommen entfernt stehende Bäume ins Bild, hängen sie an der Kante des Kreises, graphisch zerlegt durch das Fugennetz, darüber gestaffelt das Original wie eine Kulisse. Doch die Spiegelteile tragen, man kann hinaufwandern auf die Membran zwischen der Lufthülle über dem Kopf und dem Himmelssack unter den Sohlen. Wolken ziehen unter den Füßen vorbei, man beugt sich zu ihnen herunter und berührt doch nur die eigenen Fingerspitzen. Ein weiterer, abschüssiger Weg führt in den Spiegel durch den Einschnitt vom Rand her, das Eis wird gebrochen. Durch den engen, wie eine Saite fein und exakt gezogenen Pfad gelangt man immer tiefer zum Zentrum des Kreises, der eigene Nabel berührt den Mittelpunkt dieser Erde. Nirgendwo sonst befindet man sich in einem Mittelpunkt der Welt, es sei denn in einer willkürlichen geometrischen Setzung wie dieser. Der Spiegel definiert den Maßstab von Leib und gedoppeltem Kosmos, er öffnet den Dialog zwischen Mensch und Universum.
In einem ausgemessenen Gelände von Waldstreifen und Ackerpatchwork wirkt der runde Spiegel wie ein mysteriöser Eingriff — ähnlich den Kreisflächen niedergedrückten Getreides in Südengland, auch wie ein gänzlich unirdisches Zeichen. Der Spiegel ist ein Artefakt in der Landschaft, nichts in dieser Gegend verfügt über die arithmetische Vollkommenheit des Kreises, keine Form sonst besitzt die Simplizität der radialen Bewegung. Vielleicht ist es diese in so reiner Form sich ausdrückende Fremdheit des Spiegels, die an Science-fiction und kosmische Menschheitserfahrung denken laßt. Andrej Tarkowskij setzte Stanislaw Lems unerhörte „Solaris“-Vision in ähnliche Bilder: ein galertartiger Ozean, flüssige Materie, die denken und Gesichte erzeugen kann, Abbilder verdrängter Erinnerung. Einmal derart halluziniert, mag man Bugrovs Speculum mundi magische Potenzen antragen, im Spiegel Tätigkeit und Eigenbewegung vermuten. Denn der Spiegel ist fortwährender Monitor kontinuierlicher Zeit. Er sieht, ohne zu speichern, er beobachtet, ohne mitzuteilen. Er weckt die Fiktion von der Permanenz des Geschehenden, die sich in der menschlichen Existenzweise von Wachen und Schlaf teilt und zersplittert. Nachts wird er einer der „schwarzen Spiegel“, die Arno Schmidt in der Heide sah. Die verdunkelnde Hülle des nächtlichen Himmels öffnet sich durch Bugrovs Spiegelauge zu einer unendlichen Passage. Eine Astralreise könnte von hier ihren Ausgang nehmen. Man gesteht die Scheu, bei Nacht in einen Spiegel zu schauen, wo man Jenseitiges zu sehen fürchtet. Auf dem Grat zwischen Vakuum und Tiefe, Standfestigkeit und Schwerelosigkeit verwehrt das Glas als Scheidewand den Wunsch, ins Universum zu tauchen.
Wenn die Phantasie weit ausgreift, trifft sie sich vielleicht mit der Imagination des Künstlers — oder überholt sie. Denn noch nie war Bugrov seinem Publikum voraus, auch er erwartet die Überraschungen des Materials. Bis zur Fertigstellung des Kunstwerks erkunden Zeichnungen die Idee. Mit Pinsel und Bleistift modelliert Bugrov auf Papier das noch fiktive Objekt. Während Bauunternehmen auf dem Weg der Realisierung des für sie ungewöhnlichen Auftrags manchmal neue Methoden entwickeln, entstehen im Künstleratelier gemalte Visionen des werdenden Objekts. In verschiedenen Phasen zeichnet Bugrov den Spiegel in der Weltenlandschaft: In einer Serie zerfasern sich Wolkenballen unter der Scheibe des Mondes und stürzen in den schmalen Spalt am Boden. Am Horizont folgen die Graphitschraffen der Erdkrümmung. In anderen Zeichnungen beherrscht der blanke Kreis eine quellende Heidedecke wie ein eingesunkener Pfropf, Wacholder umstehen das zyklopische Nichts als stumme Zeugen. Bugrov interpretiert die Heidelandschaft als ursprünglichen Ort, in dem sich der Spiegelkreis wie ein antikes Forum ausnimmt. In einer späteren Arbeitsphase sucht der Künstler den Anblick des Spiegels aus den Wolken, und allmählich verstärkt sich die Vorstellung des Spiegels als imeginäre Kugel. Sie ist seit der Aufklärung Symbol der Gleichheit und Vollkommenheit, Zeichen gewordene Utopie der allseitig gleichmäßig entfalteten Fähigkeiten des Menschen, Grundlage des intakten Staatswesens, und der Harmonie des Universums. Dessen Sonnen streben vom Zentrum in alle Richtungen im Gleichmaß. Die Scheibe als Schnitt durch den Globus: Hieronymus Bosch malte die irdische Welt als kreisrundes Theatrum mundi in der atmosphärischen Hülle der Kugel. Kosmische Visionäre im Mittelalter ordneten die Welt in der göttlichen Mandorla des Kreises. Unser Wissen, daß die Partikel des Alls gleichförmig vom Ort des Urknalls mit Lichtgeschwindigkeit hinwegrasen, findet im Bild der Kugel ihr Modell.
Im Rahmen seiner Großprojekte nehmen die Zeichnungen von Bugrov bedeutendes Gewicht ein. Sie greifen über die Anschauung hinaus, interpretieren den Ort des Kunstwerks als Welt, als Solarplexus in der Beziehung des Menschen zu seinen Räumen. Diese zeichnerische Imagination, die sich durch Wasserfarben, Kreide, Graphitstift und Radiergummi auf saugendem Papier niederschlägt, ist dem Künstler so wichtig wie das Objekt selbst. Auch Christo begleitet seine ephemeren Großprojekte in der Landschaft mit prospektiven wie retrospektiven Zeichnungen. Er bringt sie der Fotografie nahe, um eine möglichst exakte Vorstellung zu geben. Andere Künstler von Landschafts- oder Stadtprojekten siedeln ihre zeichnerische Arbeit im technischen Entwurf. Man findet statische Erwägungen und Notizen. Von beiden, von der fotografischen Spekulation wie von der technischen Kalkulation, sind Bugrovs Bilder gleichwohl entfernt. Gerade der in den Bildern ausgedrückte Denkprozeß, eigenständig von der Verkörperung der Idee im Objekt, macht den hohen Reiz von Bugrovs Zeichnungen aus. In ihnen manifestieren sich verschiedene Vorstellungen vom Kunstwerk, seine philosophischen Dimensionen: die Beziehungen, die es mit den Erkenntnisformen des Menschen vom Universum aufnimmt.
Für kunsthistorische Vergleiche bietet der Spiegel die willkommenste Spur. Heinz Mack hinterließ dem Neuenkirchener Kunstverein 1972 zwei stehende Spiegel vor der Haustür als Abglanz seines „Sahara Projekts“. Diese Stadt aus Licht — Spiegel und reflektierende Materialien in der Wüste — sollte die in den sechziger Jahren kühnste Realisierung einer der Entmaterialisierung zustrebenden plastischen Form bieten. In Fragmenten verwirklicht, konnte Mack nur dessen eine oder andere mögliche Ansicht im Foto transportieren. Andere Spiegelobjekte, von Viktor Bonato oder Michelangelo Pistoletto beispielsweise, gewölbte Spiegel beim einen, ein einmeterzwanzig messender Spiegel-„Brunnen“ beim anderen, vermitteln nurmehr eine Erlebnisfolie: Vor dem vom Jahrmarkt oder aus dem Alltag bekannten Spiegel tritt der Betrachter seinem Zerrbild oder sich selbst gegenüber. Ein praktischer Impuls ist in diesen Objekten spürbar, Hoffnung der Künstler bleibt, daß der Betrachter dabei Erkenntnis gewönne.
Vom Erlebnis solcher Spiegel zu Bugrovs „Himmel und Erde“ ist indessen ein Schritt getan, der die siebziger und achtziger Jahre überbrückt hat. Eher die im Jahrzehnt der Monderoberung hochfliegenden Phantasien der ZERO Künstler, zu denen Mack gehörte, und Yves Kleins Levitationssehnsüchte haben in Bugrovs Licht- und Spiegelarbeiten Nachfolger gefunden. Als Stifter von Raumerfahrungen stehen sie den Prinzipien der Land-art nahe, den Arbeiten von Walter De Maria oder Michael Heizer aus den späten sechziger Jahren. Wo aber Einschnitte in ein Felsmassiv (Heizer) oder immense Wüstenzeichnungen (De Maria) Edmund Burkes Begriff des Erhabenen fühlbar machen, wonach Größe und Ürsprünglichkeit der Natur den Menschen im Wissen seines eigenen Maßstabs verunsicherten, und die Erfahrung des Kunstwerks dieses Gefühl überwindlich erscheinen läßt, führte Bugrov diese Emotionsqualität mit seinen urbanen Installationen in den systematisierten Raum der Stadt zurück. Das „Neonrevier in der Alster“, 1986, und das „Lichtfeld auf der Straße des 17. Juni“, 1989, waren Werke von sublimer Strenge und zugleich schönem Schein: nicht naturhaft, sondern technisch, in ihrer Technizität nicht objekthaftes, fremdes Gegenüber, sondern durch Aneignung der Technik souveräne, soziale Subjektäußerung.
Seit dem „Neonbett“, 1983/84, arbeitet Valerij Bugrov mit künstlich technischen Alltagsstoffen. Durch die Materialien, durch deren sozialen und geistesgeschichtlichen Konnotationen, wird das Kunstwerk zur Schleuse, die in einen scheinhaft erweiterten Raum vorstoßen läßt. Die Umwertung der Technik ist bei Bugrov Programm, denn sie ist allgemein verfügbar, nicht dem Individuum äußerlich, Mittel und nicht Ziel der Entwicklung des Homo sapiens. Kein Profit läßt sich aus der Technik im Kunstwerk ziehen, kein Nutzen leitet sich von ihr ab. Die dünnen Neonrohren an den Stahlmasten des „Neonreviers“ ließen die technische Gestalt im ausufernden Lichtschein verdampfen. Die skulpturale Silhouette der Stangen verschwand im dümpelnden Rotlicht auf dem Wasser. Von einem „Fata-Morgana-Effekt“ sprach Bugrov damals und fixierte die geschaffene Erlebnisform des leuchtenden Stabsystems in ihrem sozialen Raum. Dieser war beim „Neonrevier“ die Alster in Hamburg als Ort von urbaner Identifikation und beim „Lichtfeld“ in Berlin die Meile zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor als Terrain weltpolitischer Orientierung. Wenn die „Neonbetten“ die Auslotung ihrer kulturhistorischen Vorgänger nahelegten, so ließ schon das „Neonrevier“ erkennen, wie wenig Bugrov seine Arbeiten metaphorisch verstanden wissen will. Bald suchte er, über das Bett hinauszukommen, das den Auslöser zu Bildassoziationen gab, entkleidete das Neonsystem vom Objektträger und wechselte zu anderen Werkstoffen über: Gemeinsam mit Eldo Hell konzipierte Bugrov 1989 den „Fallenden Himmel“ für Paris, eine Neonlinie im Zentrum des Grand Palais im Sturz auf eine waagerecht liegende Videowand. War beim „Neonrevier“ der Reflektor das Wasser, bildeten hier Bilder der Raumfahrt den Resonanzboden. Auch eine feste Installation in Hamburg-Harburg, 1990 fertiggestellt, erzeugt ein Spannungsfeld zwischen Reflexionsleinwand, Atmosphäre und gebauter Architektur durch Technik: Die Spiegelwand ritzt ein dreieckiges Loch in den Himmel, um wieder Himmel in sich aufzunehmen. Bei anderem Standpunkt reflektiert die 40 Meter lange Splitterfläche ein Postgebäude am Neuländer Platz und jenen „Neonpfeil“, den Bugrov 1988 bei der Ausstellung „Kunststück Farbe“ in Berlin vorstellte. Bei allen Projekten dient das technische Material als figuraler Kraftstoff. Auch das „Neonbett“ gibt sich rückblickend als metaphysisches Objekt zu erkennen, von dem sich die durch das Licht angespornte Imagination über das Sozialmodell hinausschwingt, den Raum zu erobern, den das Neonlicht schon geöffnet hat.
Der Neuenkirchener Spiegel schließlich verwandelt sich der Natur an, wird Element eines globalen Organismus. Flach im Boden, gehört er der Erde. Über sich die Luft, spiegelt er sie ins Erdreich. Im Spiegel liquidiert der Stoff seine eigene Masse, indem auch er Licht bindet. Was hier das natürliche Licht, Voraussetzung unserer Orientierung auf der Erde, durch den Spiegel uns sehen macht, ist nichts weniger als Vision. Die unmittelbare Anschaulichkeit von Raum und Zeit, Größe und deren funktionalen Hierarchien im Spiegel wird durch ihn im selben Moment auf den Kopf gestellt. Der Verlust der Gewißheit wendet sich zum Gewinn. Aus Himmel und Erde werden Himmel und Himmel, das Kunstwerk verschwindet. In diesem Spiegel etwas anderem als Narziß in die Augen zu schauen, ist das Versprechen.