Andreas Vowinckel – Text zum Symposion: Zwei Steine sind nie gleich

von Andreas Vowinckel, 1978

Künstler: Jean Clareboudt / Michael Enneper / HAWOLI / Jan Meyer-Rogge / Ladsilav Minarik / Nils-Udo / Bernhard Pagès / Karina Raeck / Janet Reichhold / Gary Rieveschl / Rudolf Wachter

I

Das Thema der diesjährigen Sommerausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« nimmt, wie schon 1977, Bezug auf die Natur, ohne aber den Rahmen so präzise abzustecken, wie mit der letztjährigen Vorgabe »Material aus der Landschaft — Kunst in die Landschaft«. Wurde hier noch eine direkte Beziehung zwischen Landschaft und Kunst hergestellt, so drückt das Thema »zwei Steine sind nie gleich« einen Gedanken aus, der, von der äußeren Erscheinungswelt der Natur abgeleitet, als Metapher auf eine grundsätzlichere Problematik hinweist. Dieser Problematik sollen sich die eingeladenen Künstler aus ihrem individuellen Verständnis heraus stellen, um so an ihrer Lösung mitzuwirken.

Es kann nicht die Aufgabe sein, an dieser Stelle die einzelnen Arbeiten auf die erzielten Ergebnisse hin zu befragen. Vielmehr soll umgekehrt versucht werden, zu klären, welche Absichten Ruth Falazik als Veranstalterin und Organisatorin der Sommerausstellungen mit dieser Themenstellung verfolgt und welche Überlegungen ihr zugrunde liegen. Denn erst die Verbindung zwischen dem idellen Ausgangspunkt der Galeristin und den von den Künstlern geschaffenen Werken geben eine Vorstellung von dem Sinn und Zweck, schließlich auch dem Erfolg der gemeinsamen Arbeit.

Wie berechtigt und notwendig die Fragestellung ist, ergibt sich schon allein aus der Tatsache, daß überhaupt ein Thema gestellt wird und dieses nicht das Ergebnis einer gruppenbezogenen Arbeit zwischen der Galeristin und den Künstlern ist. Um die Thematik für die diesjährige Ausstellung erschließen zu können, ist es notwendig, die bisherigen Sommerausstellungen in die Analyse mit einzubeziehen.

II

Der Ausgangspunkt für die Sommerausstellung 1972 war die Situation der Galerie selbst: einer Galerie, die sich nicht nur für die zeitgenössische Kunst engagiert, sondern zugleich auch die Funktion der Kunst in der Gesellschaft hinterfragt hat. Fernab des großstädtischen Kunstbetriebs suchte sie daher in einer ländlichen Umgebung und bäuerlichen Gesellschaftsstruktur nach neuen Formen der Kunstvermittlung, die die Kunst aus dem Kreislauf einer rein individualistisch geprägten Kunst-um-der-Kunst-willen herausführen und wieder als ein kreatives Mittel in den Prozeß der Veränderung von Gesellschaft integrieren sollte.

Mit der »Aktion Heidebild« ging es darum, das im allgemeinen von romantischen Gefühlen und Sehnsüchten besetzte Bild einer Landschaft wie das der Lüneburger Heide im Spiegel der Vorstellungen zeitgenössischer Künstler mit den Mitteln der Ironie zu problematisieren. Die Ausstellung versuchte damit der Bevölkerung ihre meist irrationalen, vom täglichen Leben gänzlich unabhängigen Einstellungen der Landschaft gegenüber als Klischeevorstellung bewußt zu machen, ihr gleichzeitig jedoch über die Thematik einen Zugang zur zeitgenössischen Kunst zu ermöglichen. Im Ergebnis deckte sie andererseits ein zutiefst verunsichertes, ja gebrochenes Verhältnis der Künstler nicht nur dem Thema Lüneburger Heide, sondern dem Aspekt Landschaft überhaupt gegenüber auf, wie es an der ironischen Distanz abzulesen war, die die meisten Ausstellungsbeiträge kennzeichnete.

Die »Aktion Heidebild« machte exemplarisch auf zwei verschiedenen Ebenen ein Phänomen sichtbar, das ein wesentliches Merkmal der modernen Industriegesellschaft ist: die Entfremdung. Das heißt die Entfremdung des Künstlers von der Natur und andererseits die Entfremdung der bäuerlichen Bevölkerung von der Kultur. Beide Gruppen, das lehrte die Ausstellung, leben in einem von sozialen Faktoren abhängigen geistigen Getto, das zu überwinden eine zentrale Aufgabenstellung wurde. Es galt nicht nur gesellschaftliche, sondern besonders auch intellektuelle Barrieren einzureißen und einen wechselseitigen Lernprozeß auf der Seite der Bevölkerung und der der Künstler an grundsätzlichen Problemen von gemeinsamem Interesse in Gang zu setzen.

III

So griff Ruth Falazik nach einer Ausstellung zum Thema »Reale und irreale Räume« in einem nächsten Schritt den urbanen Hintergrund der Galerie, das Dorf Neuenkirchen, als Rahmen der Sommerausstellung 1974 auf. Unter dem aIs Herausforderung gemeinten Gesichtspunkt »Kunst — Dorf« wurden dem dörflichen Ambiente Freiplastiken, die nicht speziell für diese Ausstellung geschaffen worden waren, bewußt als »Signale und Embleme« entgegengesetzt. Durch diese kompromißlose Konfrontation von zwei völlig verschiedenen Realitätsebenen gelang es, die ästhetischen Maßstäbe, nach denen die Plastiken konzipiert waren, wie auch die Ästhetik der ihnen fremden sozialen Umwelt nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch zu problematisieren. Denn hier wurde der gesellschaftliche Standort der Künstler, der, scheinbar autonom, von der sozialen Struktur einer bäuerlichen Umwelt weit entfernt ist, ebenso faßbar, wie auch das kulturelle Vakuum der Dorfgemeinde in seiner Distanz zu dem hochgeschraubten intellektuellen Anspruch der Künstler.

Diese konkrete Erfahrung der gesellschaftlichen Isolation der Künstler und damit eng verbunden die Infragestellung der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Arbeit forderte einen Umdenkungsprozeß heraus. Dieser wurde zwar schon — ganz allgemein betrachtet — in einem ersten sozialkritischen Ansatz nach dem Ersten Weltkrieg von »Dada« und später in den fünfziger Jahren von den Künstlern der Pop Art paradigmatisch thematisiert, aber erst in Verbindung mit der Kritik am Selbstverständnis der kapitalistischen Systems, unabhängig vom sozialistischen Realismus, im Zuge der Studentenrevolten in den USA, wie auch in den europäischen Ländern im Werk vieler Künstler Gegenstand gesellschaftskritischer Inhalte.

IV

Dieser Umdenkungsprozeß fand im deutsch-französischen Medien-Symposion der Galerie Falazik zu den Bereichen »Foto — Film — Video« mit einer abschließenden Sommerausstellung 1975 eine entscheidende Vertiefung. Zum erstenmal setzten sich Künstler, die von Ruth Falazik und dem Deutsch-Französischen Jugendwerk eingeladen wurden, vor Ort, in einer gruppenbezogenen, auf Erfahrungsaustausch ausgerichteten Arbeit mit den urbanen Gegebenheiten, mit den sozialen Verhältnissen der Bevölkerung, ihrer Geschichte, ihrem Bild von Kunst und Künstlern und der Landschaft auf eine Weise auseinander, die dem Charakter der Medien als Kommunikations- und Informationsmittel entsprach. So ersetzten in einem Funktionswandel des künstlerischen Denkens und Handelns von nun an inhaltliche Fragestellung, wie sie seit Anfang der siebziger Jahre unter dem Begriff »Spurensicherung« mit anthropologischem, archäologischem oder autobiographischem Interesse entwickelt wurden, die formalästhetische Selbstdarstellung der Medien. Diese wurde besonders im Werk amerikanischer Foto-, Film- und Video-Künstler der sogenannten Concept- und Process Art dazu herangezogen, mit Hilfe einer differenzierten Mediengrammatik, Wahrnehmungsmechanismen als konstituierende Elemente eines radikal subjektiven und daher absoluten Wirklichkeitsbegriffs nachvollziehbar und damit bewußt zu machen.
Die zufällig herausgegriffenen Szenen des täglichen Lebens in Neuenkirchen aber, die mit der Videokamera aufgezeichnet wurden, die Fotodokumente, Zeugnisse und Objekte tatsächlicher Ereignisse aus Vergangenheit und Gegenwart, spiegeln Erfahrungen und Traditionen, somit Geschichte wider. Sie vermitteln ein Bild der Menschen und der Umwelt, in dem sich die Bevölkerung von Neuenkirchen nicht nur selbst wiedererkennen, sondern mit dem sie sich, ebenso wie die Künstler, in einem Prozeß der Selbstbefragung und Selbstfindung, identifizieren konnte. Damit wurde der erste Schritt vollzogen, die Entfremdung durch die Identifikation mit einem gemeinsamen Inhalt von existentieller Bedeutung zu überwinden.

V

Was aber hat für die bäuerliche Bevölkerung eine größere existentielle Bedeutung als das Land, das sie kultiviert, von dem sie lebt? — Damit rückte die Landschaft in das Blickfeld: eine Landschaft wie die Lüneburger Heide, die sich ganz konkret als Träger von Kultur, von Mythos behaftet, mit einer in die Vorzeit zurückreichenden Geschichte, offenbarte. Es war kein Zufall, daß die anthropologischen Forschungen von Carlos Castaneda, die er über die Lehren des mexikanischen Yaki-lndianers Don Juan veröffentlicht hat, die Bedeutung von Landschaft bewußt gemacht und Ruth Falazik in einer konsequenten Erweiterung der bisherigen Fragestellungen angeregt hat, die Sommerausstellung 1976 mit dem Thema » Plätze der Macht — Orte der Kraft« durchzuführen.

Der »Weg des Wissens«, den Castaneda autobiographisch als eine schrittweise erkenntnisphilosophische und damit identifikatorische Annäherung an die Einheit, das heißt absolute Realität von Natur und Bewußtsein beschrieben hat, wurde für die eingeladenen Künstler zu einer Herausforderung, die traditionellen, das heißt ästhetischen Beziehungen zwischen Landschaft und Kunst in Frage zu stellen. Nun ging es darum, die Kategorien von Raum und Zeit als Bezugspunkte einer neuen dialektischen Standortbestimmung zu begreifen: »Plätze der Macht — Orte der Kraft«, das bedeutete die Einheit, ja Identität zwischen der objektiven Realität der Natur und der subjektiven Realität einer aus der Auseinandersetzung mit der Natur gewonnenen Erkenntnis anschaulich, das heißt konkret sichtbar zu machen.

Dies setzte die Bereitschaft der Künstler voraus, sich selbst nicht nur mit dem Charakter und dem Wesen der Landschaft um Neuenkirchen intensiv zu beschäftigen, sondern sich darin auch von ihr in Frage stellen zu lassen. Den Ergebnissen ihrer Arbeit, die weiträumig über die Landschaft verstreut sind, gelang und gelingt es — was besonders auch für die Sommerausstellung von 1977 »Material aus der Landschaft — Kunst in die Landschaft« wie für die diesjährige Ausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« gilt, die die aufgegriffene Thematik schrittweise präzisieren — den Zusammenhang von Natur und Kultur für den Betrachter wie auch für den Künstler anschaulich zu problematisieren.

In den von der Galerie durchgeführten Symposien, die die Künstler bewußt für längere Zeit in eine kommunikationsintensive Arbeitsgemeinschaft zusammenführen, geht es daher nicht um eine romantische »Zurück-zur-Natur«-Bewegung, sondern vorwiegend um die Aufdeckung von Fakten, die im Unterbewußtsein vieler Künstler ihr subjektives Denken und Handeln bestimmen. Sie gewinnen durch die Veranschaulichung mit Materialien der Natur, wie Erde, Steine, Rasen, Bäume usw., im Kontext der Landschaft objektiviert, exemplarische Bedeutung und damit als ein Identifikationsfaktor gesellschaftliche Relevanz. Ihre in den Skulpturen, Objekten und Erdarbeiten gestaltete Realität vermag in der Wahrnehmung der Betrachter einen Prozeß der Bewußtwerdung auszulösen, der seinerseits zu einer neuen Standortbestimmung gegenüber Natur und Kultur führen kann.

Darin liegt die weitreichende und grundsätzliche Bedeutung dieser Konzeption für die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst, wie auch für ihre Rezeption als Ausgangspunkt einer neuen Beziehung zur Wirklichkeit. Denn hier wird ein Reflexionsprozeß in Gang gesetzt — zwei Steine sind nie gleich –, der eine philosophische Dimension annimmt. Er geht über die Konzeptionen hinaus, die, etwa im Werk von meist amerikanischen Künstlern der sogenannten Land Art, wie Robert Smithson, Michael Heizer, Richard Long und Dennis Oppenheim bis zu George Trakas oder Nancy Holt, mit Hilfe oder unter Einbeziehung der Natur und ihrer Materialien, in Analogien zu ihr, Mechanismen der Wahrnehmung und des Denkens phänomenologisch veranschaulichen und bewußt machen wollen.