Andreas Vowinckel – Text zum Symposion: Steinfelder

Jahr 1979
Titel Steinfelder
Künstler Rolf Jörres
Autor Andreas Vowinckel

I

Findlinge — dieses durch die Eiszeit aus Skandinavien verschobene und in der norddeutschen Tiefebene abgelagerte Granitgeröll, das in oft überlebensgroßen Exemplaren mit dieser Häufigkeit nur noch in der Lüneburger Heide anzutreffen ist — bilden das alleinige Material für die jüngste Arbeit von Rolf Jörres, die er »Steinfelder« nennt.

Sie sind in der Nähe von Neuenkirchen auf einer Ödlandfläche von circa 2500 qm aus zehn Gruppen unterschiedlich großer Steine in einer lockeren Anordnung, die keine Systematik erkennen läßt, aufgebaut. Die Steine wurden vom Künstler nicht überarbeitet. Ihre abgeschliffenen, gerundeten Volumen, ihre Risse, Brüche und offenliegenden kristallinen Strukturen, ihre vereinzelt eingetriebenen Markierungen zeigen vielmehr die Spuren der natürlichen Erosion oder von menschlichen Eingriffen, die die Geschichte von der Steinzeit bis in die Gegenwart auf ihnen als Baumaterial für Hünengräber, für Begrenzungswälle oder Gebäudefundamente hinterlassen hat.

Rolf Jörres hat diese in der Landschaft oder auf den umliegenden Bauernhöfen vorgefundenen Steine für seine Arbeit lediglich nach Gesichtspunkten ihrer Form und Größe, ihrer Masse und Struktur ausgewählt. Er hat sie einander zu Gruppen von zwei, drei oder mehreren Steinen zugeordnet. Sie bilden so mehrere in sich abgeschlossene plastische Einheiten. Zusammengesehen aber, eingebettet in die Landschaft des Ödlandes, eröffnen sie als eine begehbare »Plastik«, wie der Titel »Steinfelder« im Sinne des Wortes sagt — je nach dem Standort des Betrachters wechselnde formale und inhaltliche Beziehungen. Sie machen über die jeweils einzelne Steingruppe hinausweisende neue räumliche Zusammenhänge sichtbar und inhaltliche Deutungen möglich. Die künstlerische Handlung, das heißt der formale Eingriff, den Rolf Jörres in bezug auf die Steine wie auf die Landschaft vornimmt, bleibt dabei lediglich auf zwei Kriterien beschränkt: erstens auf die Auswahl und zweitens auf die Zuordnung der Objekte in einem vorgegebenen Landschaftsraum.

Die drei Steine, die beispielsweise zu einer »Säule« als einer in sich geschlossenen Gruppe übereinandergeschichtet sind, können im Sinne architektonischer Begriffe inhaltlich als stützende und lastende Elemente interpretiert werden. Dies legen die Formen und Strukturen der Steine ebenso wie ihre Größenverhältnisse zueinander nahe, durch die die Funktionen genau festgelegt sind. Während die zwei unteren, abgeflachten Steine horizontal gelagert sind und durch ihre diminuierende Abstufung nach oben als Sockel und Zwischenglied eine tragende Funktion ausüben, wird durch den darübergesetzten, überdimensional großen dritten »pyramidalen« Steinkörper nicht nur Gewicht und Masse, sondern auch das Lastende anschaulich.
In der Innenstruktur dieser Arbeit sind also bildnerisch gehandhabte Formen-, Volumen- und Raumbeziehungen feststellbar. In diese werden darüber hinaus Werte der Oberflächenstruktur ebenso miteinbezogen wie die malerisch-mitgestaltende Einwirkung von Licht und Schatten. Diese Elemente des Bildnerischen bestimmen die »Säule« als eine Plastik mit einem autonomen Form- und Ausdrucksgehalt. Sie kann damit auch an jedem anderen Ort aufgestellt, von der Landschaft unabhängig gedacht werden, ohne daß hiervon ihre inhaltliche Bedeutung berührt würde.
In jeder einzelnen der zehn Arbeiten, die zusammengesehen die »Steinfelder« bilden, hat Rolf Jörres analoge statische oder dynamische Situationen mit eigenem Bedeutungsgehalt geschaffen. Er hebt hierbei einerseits bildnerische Probleme der Volumen-, Raum- oder Beziehungen der Oberflächenstruktur hervor. Andererseits betont er, je nach der Art der Zuordnung, den individuellen Charakter und Ausdruck eines einzelnen Steines oder einer Gruppe. Es ist vor allem dieser zweite Gesichtspunkt, der als wichtiges Merkmal der »Steinfelder« in den meist horizontal in die Breite entfalteten Steingruppen deutlich in Erscheinung tritt und ihnen in ihrer Selbstdarstellung einen besonderen Reiz gibt.
Bezieht man die »Säule« oder jede andere als Einzelarbeit zu betrachtende Steingruppe in den Zusammenhang der übrigen mit ein, dann wird die formale Innenstruktur — die, wie gezeigt werden konnte, autonomen ästhetischen Kriterien unterworfen bleibt — in ihrer inhaltlichen Bedeutung relativiert. Die Arbeit gewinnt in ihrer Außenstruktur nun einen neuen, veränderten Stellenwert. Er ergibt sich einerseits aus dem Verhältnis der verschiedenen Steingruppen untereinander, das heißt aus der Spannung ihrer Volumenentfaltung und Massengliederung, sowie aus den so entwickelten Raumzusammenhängen. Er ergibt sich andererseits aber — und das ist hier der entscheidende Gesichtspunkt — aus der unsystematischen, beinahe zufälligen Einbettung der Steingruppen in die umgebende Landschaft beziehungsweise aus der wie selbstverständlich anmutenden Einbeziehung der Landschaft in den Entwurf der Arbeit, die weitreichende Konsequenzen nach sich zieht.
Die Steine, die in einer offenen Landschaft, die vielleicht vereinzelt Findlinge, kaum aber namhaft arrangierte Steingruppen aufweist, die solchermaßen verfremdet werden, wecken Assoziationen beim Betrachter und nehmen so neue, bisher ungewohnte Bedeutungen an. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird hierdurch nicht nur wieder auf die typische Gestalt und Struktur der einzelnen Findlinge gelenkt. Vielmehr tritt durch sie gleichzeitig auch ihr natürlicher Bezugsraum »Landschaft« mit in das Blickfeld. Die Steingruppen stellen somit eine veränderte Beziehung des Betrachters zum ländlichen Umraum her. Zwei Bedingungen liegen diesem Vorgang zugrunde: erstens der Verzicht des Künstlers, an den vorgefundenen Findlingen einen Eingriff vorzunehmen, der den ursprünglichen Zustand verändern würde; zweitens der Verzicht des Künstlers, die Steingruppen nach einem durchgreifenden, logisch begründeten und damit zwangsläufig abstrakten Konzept in dem Landschaftsraum anzuordnen. Es geht Rolf Jörres vielmehr darum, die Steingruppen offen und ohne ein festgelegtes System analog der unendlichen Vielfalt der Natur selbst, das heißt ihr gemäß, mit möglichst vielseitigen Aspekten anzulegen. Die vom Künstler hergestellten Zusammenhänge zwischen den Steinen wie auch zwischen den Steinen und der Landschaft werden durch die Reduktion der künstlerischen Handlung auf Auswahl und Zuordnung der Steine als künstlerische Kriterien definiert. Das Prinzip dieser Kunst besteht demnach in der Ambivalenz von Realität, das heißt einer Ambivalenz zwischen »Kunst« als einer subjektiven Realität und »Natur« als einer objektiven Realität. Es gehört zum Wesen dieser Ambivalenz, daß der Betrachter die Realität der vom Künstler vorgegebenen Beziehungen und Zusammenhänge für sich immer von neuem zu prüfen und zu entscheiden hat: »Kunst«, wie sie in den einzelnen verschiedenartigen Steingruppen und in ihren Zuordnungen als Ganzes inhaltlich faßbar wird, und »Natur«, wie diese durch die Auswahl der Steine und ihre Einbettung in die Landschaft bewußt, das heißt sichtbar gemacht zu werden vermag …

II

Rolf Jörres, 1933 in Essen geboren, kam über das Studium der Architektur seit 1954 in Graz und Wien zur Steinbildhauerei, der er sich seit Ende der fünfziger Jahre ausschließlich widmete. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, arbeitete der Künstler seit 1961, wieder nach Essen zurückgekehrt, konsequent an den bildnerischen Aufgaben, die sich ihm in der Auseinandersetzung mit dem Medium Stein in seinen verschiedensten Materialformen stellten, wie Muschelkalk, Basaltlava, Kalkstein, Main- oder Ruhrsandstein, Travertin, Granit oder Marmor. Steine, die als ein Konzentrat des biologischen und geologischen Kreislaufs der Natur, als ein Zeugnis von Geschichte, eingebunden in die Zivilisationsbedürfnisse des Menschen, schließlich als Verdinglichung der in Dauer und Beständigkeit gebundenen Flüchtigkeit des Augenblicks, der Zeit, eine autonome Realität verkörpern. Seit 1977 vermittelt Rolf Jörres seine Erfahrungen und Einsichten als Lehrer an der Kunstakademie in Düsseldorf.

Schon in den frühen Werken des Künstlers Anfang und Mitte der sechziger Jahre werden wesentliche Kriterien seiner Arbeit faßbar. Rolf Jörres überarbeitete beispielsweise einen rechteckigen Basaltlavablock mit Hammer und Meißel gleichmäßig so, daß ohne jegliche ornamentale Akzentuierungen durch die abgerundeten Kanten und gemuldeten Seiten alleine der Charakter des Steinkörpers in seiner ihm eigenen Substanz zum Ausdruck kommt. Er führte darüber hinaus eine Gliederung des Volumens durch die horizontale Einschnürung des ungeteilten Steinkörpers ein, die es ihm erlaubte, das Verhältnis von Masse und Gewicht in allen Varianten: von Liegen oder Stehen, von Tragen oder Lasten, von Ruhe oder Bewegung, als Phänomene der Realität an sich sichtbar zu machen. In allen Beispielen dieser Werkphase strebte der Künstler eine größtmögliche Präzision in der Formulierung solch grundlegender Erfahrungstatsachen an.

1964 nahm Rolf Jörres an dem schon 1959 von Karl Prantl initiierten internationalen Symposion der Steinbildhauer in St. Margarethen / Burgenland teil. Dort errichtete er als erstes landschaftsbezogenes Werk eine fünfteilige Großplastik aus vorgefundenen Konglomeratblöcken. Je zwei übereinandergeschichtete unbearbeitete Blöcke bilden Türme, die von dem fünften zwischen ihnen zu einer Einheit von architektonischem Gewicht zusammengebunden werden. Offenbar sind Eindrücke antiker Tempelanlagen oder italienischer Landschaftsarchitektur in die akzentuierende Aufstellung der Plastik auf einem flachen Hügel mit eingeflossen. Doch findet vor allem die Weite und Großzügigkeit der lichterfüllten Landschaft in der ebenso monumentalen wie einfach gegliederten, Ruhe und Konzentration ausstrahlenden Plastik ihre unmittelbare Entsprechung. Damit formulierte der Künstler in dieser Arbeit offensichtlich kontrapunktisch den Charakter der Landschaft, wie er sie wahrgenommen und empfunden hatte, in gleicher Weise, wie er in der ersten Werkgruppe die Kongruenz zwischen der Beschaffenheit und dem Wesen des ausgewählten Steins und seinen physikalischen Bedingungen als Ergebnis von Wahrnehmungsfakten zu verdeutlichen suchte. Dies bleibt auch in den folgenden Werkphasen die entscheidende künstlerische Problemstellung. Vor dem Hintergrund der Großplastik in St. Margarethen und dem hier als sinnvoll und notwendig erwiesenen Umgang mit vorgefundenen, unbearbeiteten Steinblöcken, ihrer Übereinanderschichtung und Zuordnung wird der Durchbruch verständlich, den er in der Auseinandersetzung mit Einzelsteinen nun erzielte.

Der Künstler setzte 1965 die gleichmäßige Rundumbearbeitung meist länglicher Steinblöcke, die ihre Volumen und ihre Substanz nicht nur offenlegt, sondern objektiviert, wie sie auch andere, von außen herangetragene inhaltliche Assoziationen bewußt neutralisiert, nun in einer veränderten Absicht fort. Rolf Jörres suchte durch einfache oder mehrere Einschnürungen des Steinkörpers nicht mehr so sehr ein bestimmtes Verhältnis etwa von Masse und Gewicht anschaulich zu machen. Vielmehr setzte er möglichst gleichwertige Formglieder in vertikaler Abfolge so zueinander in Beziehung, daß das Verhältnis der Einzelglieder zum Ganzen im Sinne eines ausgewogenen architektonischen Systems eine Einheit bildet. Dadurch wurde der Widerspruch zwischen der materiellen Substanz des ausgewählten Steins, der durch seine Härte und Sprödigkeit dem Künstler einen qualitativen Widerstand entgegensetzte, und der »Idee«, die in dem Willen der oben angedeuteten, so und nicht anders geplanten Bearbeitung ihren Ausdruck fand, als eigentlicher Gestaltungsinhalt objektiviert. Damit gelang es Rolf Jörres, eine »Idee«, die nicht nur als Inhalt seines künstlerischen Wollens, sondern vor allem auch als Instanz der Selbstbefragung und Selbstanalyse aufgefaßt werden kann, als ein objektiviertes Kriterium seiner bilbhauerischen Tätigkeit zu formulieren.

Im Umgang mit dem Stein kam ihm darüber hinaus 1965 ein Zufall zur Hilfe, der eine entscheidende Erweiterung des Handlungsraumes ermöglichte. Eines Tages zersprang dem Künstler infolge immer tiefer vorgetriebener Einschnürungen der Steinkörper in zwei Teile. Die »Säule« war zerbrochen und leitete so von einem hauptsächlich vertikalen Aufbau in eine Ordnung der horizontalen, räumlichen Entfaltung über, die noch heute die Arbeit von Rolf Jörres bestimmt. Dieser Vorgang ist für ihn deswegen von weitreichender Bedeutung, weil sich, eigentlich ohne sein willentliches Zutun, die bildnerische Objektivierung dessen, was wir »Idee« genannt haben, von selbst materialisiert hatte. Das künstlerische Handeln konnte von nun an auf die Auswahl der Steine, gleichwertige Überarbeitung aller Seiten und ihre Zuordnung, durch die die »Idee« ihre Verwirklichung fand, beschränkt werden.

Anläßlich der Ausstellung »Szene Rhein-Ruhr« 1972 in Essen entdeckte er alte Bordsteine, Basaltlavablöcke, die teilweise noch in der ursprünglichen Länge erhalten, meist aber zerbrochen waren. Der Künstler beschränkte sich darauf, diese Fundstücke, die wegen ihrer Banalität achtlos beiseite lagen, dennoch geschichtliche Zeugnisse sind, mit wenigen Meißelschlägen so zu überarbeiten, daß ihre vorangegangenen Funktionen verschleiert, das heißt neutralisiert wurden. Allein ihre materielle Substanz und vom Zufall bedingte Struktur traten noch in Erscheinung. Er ordnete sie zu Gruppen vertikaler und horizontaler Glieder, in die nun »Raum« als Bezugsebene in zweifacher Weise eindrang: erstens, analog der Formulierungen, die seine bisherige Arbeit bestimmten, durch Volumen, die er miteinander in Beziehung setzte, als Binnenraum also, aber mit vielschichtigen Bedeutungsaspekten; zweitens »Raum«, der einerseits durch die scharf kontrastierenden Proportionen der Steinelemente und andererseits durch die weitgehend unberührt gelassene natürliche Oberflächenstruktur als Umraum und in bezug auf Freiplastik als Landschaftsraum in die Ordnung mit einbezogen wurde.

Wir stoßen hier 1972 auf die ersten Beispiele einer die Funktion der Plastik differenzierenden Gestaltungsweise, die auch der Arbeit »Steinfelder« zugrunde liegt. Rolf Jörres formuliert mit den Kompositionen von Steinfragmenten ganz bestimmte Probleme der Wahrnehmung wie beispielsweise Primärphänomene bei der Bestimmung und Erfahrung von Raum: Liegen und Stehen, vereinzeltes oder verbundenes Stehen, Aufliegen oder Überbrücken, Reihen, Reihe aufbrechen, in Richtungen weisen, Einschließen, Öffnen; bildnerisch angelegte Figurationen also, in denen jeder Stein eine genau festgelegte Funktion verkörpert. Andererseits macht der Künstler durch die Verfremdung der Steine aus dem älteren funktionalen Zusammenhang, der ihre schematisierten Formen festlegte, und durch den Verzicht auf die weitergehende Veränderung ihrer Oberflächenstruktur die Realität ihrer materiellen Substanz, das heißt ihre Natur und damit zugleich die Natur ihrer Umgebung, sei es ein Innenraum oder ein Landschaftsraum, bewußt. Kunst und Natur werden hier, das kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, in eine sich wechselseitig erhellende Beziehung zur Erweiterung der Wahrnehmung und Vertiefung des Bewußtseins gestellt.
Rolf Jörres hat die Erkenntnisse aus diesem Schritt in seinem Beitrag für die Sommerausstellung der Galerie Falazik 1974 »Kunst — Dorf« mit einer Großplastik aus drei Findlingen zunächst in einem dörflichen Ambiente verwirklicht, die in ihrer Konzeption jedoch noch seinem ersten landschaftsbezogenen Werk in St. Margarethen verbunden bleibt. Mit der Arbeit »Steinfelder« 1979 aber fand er eine Lösung, in der er zum erstenmal das Medium »Plastik« und das Medium »Landschaft« als objektivierte Elemente einer neuen zukunftsweisenden Gesamtkonzeption von Landschaftskunst thematisierte. Versucht man sie im Zusammenhang mit der Kunst der letzten Jahre zu sehen, insbesondere in Verbindung mit dem Themenkomplex Kunst und Natur, den die Künstler seit Mitte der sechziger Jahre zum Gegenstand ihrer Fragen und Analysen gemacht haben, dann muß seine Arbeit aufgrund ihrer Struktur auf zwei Kategorien hin zunächst getrennt befragt werden: in bezug auf den Stellenwert und die Bedeutung der Kategorie »Plastik« in der Kunst und die der »Landschaft«.

III

Die »Plastik« bleibt, wie oben gezeigt werden konnte, in der Arbeit »Steinfelder« eine autonome, in sich abgeschlossene Einheit. Sie ist das eigentliche Medium seines künstlerischen Wollens. Vier Phasen führten Rolf Jörres in der Auseinandersetzung mit dem Stein folgerichtig von der Aufdeckung seiner geologischen Substanz und der Struktur der physikalischen Gesetze, denen er unterliegt, bis zur Materialisation der Bezugsebenen, in die er als ein Beispiel für Primärphänomene der Wahrnehmung und Bewußtmachung von Realität ursächlich eingebettet ist. Er faßte den Stein daher nie als Mittel der Veranschaulichung bildnerischer oder literarischer Inhalte, sondern immer als eine autonome Realität mit eigener Gesetzmäßigkeit auf, die es herauszuarbeiten galt. In diesem Ansatz werden die Voraussetzungen deutlich, von denen Rolf Jörres ursprünglich ausging: es ist das Denken eines Architekten und seines vitalen Interesses an der Substanz und Struktur der Materialien, mit denen er beim Bauen umzugehen hat, sowie den Funktionen, die sie ausfüllen können. Ihm entspricht die Logik, mit der er auf der Ebene der Plastik von der Analyse zur Thematisierung der Anschauung vorgeht. Sie findet in der Methodik seiner Arbeitsweise ihren Ausdruck, mit der Rolf Jörres schrittweise seine bildhauerische Tätigkeit von dem aktiven Eingriff einer den Stein verändernden Gestaltung auf den einfachen Akt des Auswählens und Zuordnens von Fundstücken, wie in »Steinfelder«, zurückführt. Gerade in diesem für einen »Bildhauer« ungewöhnlichen, aber radikalen Verfahren, das den Maßstäben einer von ästhetischen Kriterien abhängigen Gestaltung des Schönen oder Häßlichen, des Realen oder Imaginären zu widersprechen scheint, findet der Künstler zu Gestaltungsprinzipien, die während und nach dem ersten Weltkrieg als Protest gegen jede Ästhetik von Hans Arp, Max Ernst, Kurt Schwitters, Francis Picabia oder Man Ray in den »DADA«-Collagen und Objekten durch die Zusammenstellung heterogener Fundstücke aus dem Bereich des Banalen, entdeckt und ausgebildet wurden. Während Hans Arp auf ihrer Grundlage oder der in seiner Tradition stehende Henry Moore in ihren Plastiken den Gestaltreichtum der Natur besonders am Beispiel des menschlichen Körpers abstrahierten und die Ästhetik ihrer Urform aufdeckten, enthüllt Rolf Jörres am Beispiel der von ihm ausgewählten und lediglich einander zugeordneten Steine die Ästhetik der objektiven Realität von Natur, des Seienden. Es ist die Ästhetik ihrer geologischen Beschaffenheit ebenso wie die der physikalischen Gesetze, deren Wirkungsweisen er durch die Steine zur Anschauung bringt. Ohne daß diesem Gesichtspunkt zu großes Gewicht beigemessen werden soll, hilft er doch die Stellung seines Werkes in der Kunst der vergangenen Jahrzehnte näher zu bestimmen.

Mit der ebenso einfachen wie klaren Formulierung seiner Konzeption in der Plastik, die konkrete Phänomene der Natur als Wahrnehmungskriterien verkörpert, steht die Arbeit von Rolf Jörres den Intentionen der frühen Zero-Gruppe, in besonderer Weise m. E. aber Günther Uecker und Klaus Rinke nahe, auch wenn diese keine Bildhauer im traditionellen Sinn sind. Günther Uecker sagte 1969: »Der heutige Künstler produziert und realisiert Ideen, die als Beispiel für eine neue Umwelt dienen können. Die Idee wird im Gegenstand als Produkt realisiert. Diese realen Gegenstände sind Verdeutlichungen einer neuen Betrachtungsweise. Diese Gegenstände haben keinen Objektwert, sie haben ihren Zweck in dem Augenblick erfüllt, wo sie ins Bewußtsein aufgenommen werden. Diese Gegenstände können wie Werkzeuge für Gedankenprozesse verstanden werden. — Ein Künstler ist ein Erfinder, ein Erfinder von Ideen, die sich visuell realisieren lassen, die als Gleichnisse einer geistigen Entwicklung dienen können.« 1

Oder Klaus Rinke, der sein Selbstverständnis und seine Funktion als Künstler 1972 mit der Bemerkung erläuterte: »Vielmehr verstehe ich mich als Plastiker, das heißt als ein Künstler, der visuelle Dinge plastisch greifbar macht, wobei die Endformulierung in kürzerer oder längerer Zeitdauer stattfinden kann. Das Plastischwerden vollzieht sich in bestimmten prozeßhaften Formen, die mit der präzisen Benennung des Vorganges Bezeichnung und Sinn erhalten.« 2

Beide Äußerungen untermauern mir wesentlich erscheinende konzeptionelle Aspekte im Werk von Rolf Jörres, die, im Sinne einer Abgrenzung, beispielsweise nicht mit der Arbeit von Ulrich Rückriem verglichen werden können. Die geschnittenen und gespaltenen Dolomitblöcke dieses Künstlers verkörpern vielmehr allein formale Zusammenhänge entweder zwischen dem Material und dem gewählten Maß als in sich abgeschlossenen plastischen Einheiten oder zwischen dem Material, dem Maß und dem Ort, auf den sie meist bezogen und von dem sie dann auch abhängig sind. Sie müssen daher als Vermittlungsinstanzen für die Wahrnehmung von Raum als einer formalen, das heißt abstrakten und nicht wie bei Rolf Jörres, dies ist entscheidend, als einer inhaltlichen, das heißt konkreten Kategorie verstanden werden.

Raum — als eine inhaltliche Kategorie aber objektiviert Rolf Jörres in seiner Arbeit »Steinfelder« — und gerade darin geht er einen wichtigen Schritt über sein bisheriges plastisches Werk hinaus, durch die lockere, unsystematische Anordnung der Steingruppen in der Landschaft des Ödlandes bei Neuenkirchen als Landschaftsraum. So wird die Landschaft selbst zu einer Kategorie dieser Arbeit. Gerade darin aber unterscheidet sich seine Konzeption entscheidend von all jenen Ansätzen in der Kunst, die Landschaft als Mittel der Objektivierung einer subjektiven Raum- oder / und Zeiterfahrung heranziehen. Dies gilt besonders für die Realisierungen beispielsweise von Richard Long, der mit seinem »Stein Kreuz« (1969), dem überwachsenen »Erd Kreis« (Krefeld 1969) oder seinem Beitrag für die Ausstellung »Skulptur« in Münster 1977 »Stone Cairn«, wie Günther Uecker formuliert, »auf etwas hinweist, was uns verlorengegangen zu sein scheint… Ich meine hier den unartikulierten Raum«, 3 der, wie Dennis Oppenheim oder Jan Dibbets, sei es mit Erdarbeiten, durch eigene Körpererfahrungen oder mit Hilfe der Kamera Zeitabläufe der Natur durch Bewegungssequenzen im Landschaftsraum erfahrbar macht.

Dies gilt ebenso für die landschaftsbezogenen Arbeiten für die documenta 1977 in Kassel, wie etwa von Robert Morris, die vielleicht noch am ehesten mit »Steinfelder« von Rolf Jörres verglichen werden kann. Robert Morris setzte verschiedene Steingruppen oder auch Einzelsteine, die eine Linie bildeten, ohne eine erkennbar übergreifende Ordnung auf eine der von Bäumen dicht umschlossenen und daher als Flächen eindeutig abgegrenzten Wiesen der Karlsaue. Darunter befanden sich u. a. vier quadratisch angelegte Steinhaufen, die in einem übergeordneten Quadrat einander so zugeordnet waren, daß sie zwei Achsen bildeten, die sich kreuzten, eine Steingruppe, die wie aufrechtstehende Säulenstümpfe dichtgedrängt eine Reihe als Raumriegel, sowie eine Gruppe von Steinen, die liegend und stehend eine völlig unregelmäßige Einheit bildeten. Robert Morris hat sich über die Absichten, die seinem Beitrag für die documenta 1977 zugrunde lagen, selbst geäußert: »In Betracht gezogen, einbezogen, umgeändert oder abgelehnt: Schluchten und Korridore; Hügel und Haufen; gleichgeschichtete Faltungen und Verwerfungen; Klippen und Wälle; Kavernen und gemeißelte Höhlungen; Halden und Klötze. . . Ein durch die Plastik geprägter Außenraum mit Steinquadern und Dampf. Ein Werk, das keine Skizzen voraussetzt, das keine Planform nach Grundriß und Aufriß besitzt, das nicht an einfriedende Architektur erinnert, nicht an bombastische Erdarbeiten, nicht an Kunstobjekte als Fetisch.« 4 Robert Morris definiert hier einen »Außenraum«, der an die Plastik als Gestaltform selbst unmittelbar gebunden bleibt. Den Landschaftsraum aber, das heißt »Landschaft« als eine objektivierte Kategorie der Kunst, wie Rolf Jörres sie verwirklicht, meint er nicht.

IV

1978 schrieb Ruth Falazik in der Einladung zur Sommerausstellung »Zwei Steine sind nie gleich« zu dem gestellten Thema: »In diesem Jahr werden die Strukturen des ländlichen Raumes mit denen der künstlerischen Arbeit verglichen. Diese Beziehungen: bäuerliches Ambiente — künstlerisches Ambiente sollten dargestellt werden. Die meist von ökonomischen Gegebenheiten geprägte Landschaft zeigt Formen und Situationen, die mit den Werken der beteiligten Künstler Parallelen aufweisen — so kann es in beiden Fällen zu ähnlichen ästhetischen Ergebnissen kommen, obwohl sie von divergierenden Denkansätzen ausgehen.«

Dieser Gedanke stellte die eingeladenen Künstler vor eine neue und ungewohnte Aufgabe. Es wurde von ihnen im Unterschied zu sonst üblichen Symposien, bei denen kein ebenso klares und doch zugleich so offenes Thema gestellt wird, sondern jeder Künstler einen beliebigen, allein in seinem Werk begründeten Beitrag leisten kann, erwartet, ihre Ideen und Gestaltungsvorstellungen, die jeder im Rahmen seine individuellen Beschäftigung mit der Natur als »Kunst« von subjektiver Bedeutung und Aussagen gewonnen hatte, nun in der Auseinandersetzung mit dem Wesen und Charakter der Landschaft um Neuenkirchen, das heißt ihrer geologischen, biologischen und ökonomischen Struktur, neu zu entwickeln.

Neu und ungewohnt war die Aufgabenstellung, weil »Landschaft« nicht mehr als ein Mittel aufgefaßt werden konnte: sei es für die inhaltliche Objektivierung subjektiver Erfahrungen von Raum und Zeit oder der formalen Verdinglichung von Raum in abstrakten Beziehungen von Material, Maß und Ort, sei es als Bühne zur Verkörperung einer Annäherung an die eigene Identität wie im Symposion der Galerie Falazik des Jahres 1976 »Plätze der Macht — Orte der Kraft«, oder für die Bewältigung der in der Landschaft um Neuenkirchen bereitliegenden Materialien wie Pflanzen, Erde, Wasser, Steine, Bäume des Agrar-, Heide- und Ödlandes in dem Symposion »Material aus der Landschaft — Kunst in die Landschaft«. »Landschaft« sollte vielmehr in ihrer unendlichen Vielfalt gerade als Einheit von Natur, Raum und Geschichte in ihrer immanenten gewachsenen Struktur verstanden und im Kunstwerk objektiviert werden. Dies ist exakt das Problem, das Rolf Jörres in seiner Arbeit »Steinfelder« 1979 ebenso einfach wie klar als »Idee« verwirklicht hat.

Anmerkungen

1) Katalog Günther Uecker, Hannover 1972.

2) Klaus Rinke »Zeit-Raum-Körper-Handlungen«,Tübingen 1972. S. 16.

3) Günther Uecker: Rolf Jörres (1969) in Katalog »Szene Rhein-Ruhr«, Essen 1972.

4) Robert Morris zu »Untitled« 1977 in Katalog documenta 6, Kassel 1977, Band 1, S. 210.